Pfeiffer, Eva New York Pretty - Ein Bild von Dir

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1. Taylor

Taylors Mitbewohner kniete in ihrem Zimmer auf dem Boden und maß mit einem Zollstock die Breite der Matratze aus.

»Eli, was machst du da?« Perplex blieb Taylor im Türrahmen stehen und ließ ihren abgewetzten Lederrucksack mit der Kamera darin sinken.

Eli zuckte zusammen und fuhr herum. »Oh, äh, ich dachte, du kommst erst später«, stammelte er ertappt.

Taylor behielt es lieber für sich, dass sie früher als gewohnt zu Hause war, weil sie gerade ihren Job verloren hatte. Fragend zog sie die Augenbrauen hoch. Eli und sie waren keine dicken Freunde, aber ihre Privatsphäre respektiert hatte er bisher schon. Zumindest hatte sie noch keinen Hinweis darauf gefunden, dass er in ihrer Abwesenheit in ihrem Zimmer rumschnüffelte.

»Ja, also, Taylor …« Eli stand langsam auf. Verlegen strich er sich über seine Locken, krempelte die Arme seines Wollpullis hoch, um sie gleich darauf wieder runterzurollen. »Es ist so, dass Victoria hier einzieht. Und wir haben uns entschieden, aus diesem Raum das Schlafzimmer zu machen.«

Hitze kroch in Taylors Körper, während sie die Bedeutung von Elis Worten erfasste. »Du schmeißt mich aus der Wohnung?«

»Ich wollte dir das später in Ruhe erzählen, sorry.« Eli zuckte die Schultern, was vermutlich Bedauern ausdrücken sollte, aber eher gleichgültig wirkte.

Taylors Magen zog sich zusammen. In Manhattan seinen Job zu verlieren war übel. In Manhattan Job und Wohnung zu verlieren kam einer Katastrophe gleich. Erst gestern hatte sie auf der Lower East Side im Fenster eines heruntergekommenen Hauses einen Zettel hängen sehen, der eine freie Einzimmerwohnung für 3000 Dollar Monatsmiete anpries. »Wann soll ich raus?«, fragte sie tonlos.

»Das ist ein bisschen das Problem.« Erneut krempelte Eli seine Ärmel hoch. Diesmal blieben sie dort. »Ich würde ja sagen, dass Vic übergangsweise erst mal in meinem Zimmer wohnen kann. Aber sie muss selbst aus ihrer Wohnung raus und hat wahnsinnig viele Möbel.«

»Okay.« Taylor bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Wann?«

»Sonntag.« Eli machte ein zerknirschtes Gesicht.

»Sonntag?!? Das ist ja schon in drei Tagen!« Panik machte sich in Taylor breit, und in ihrem rechten Ohr setzte ein lautes Pfeifen ein. Wo um alles in der Welt sollte sie in New York so schnell ein neues bezahlbares Zimmer finden? Gleichzeitig entsann sie sich der Tatsache, dass sie keinen schriftlichen Untermietvertrag mit Eli besaß. Als sie vor zwei Jahren in die WG in Chinatown gezogen war, hatte sie ein paar mal danach gefragt, es dann aber irgendwann vergessen.

»Ja, tut mir leid, ich weiß, dass das suboptimal ist.«

»Suboptimal? Eli, du setzt mich von heute auf morgen auf die Straße!«

»Überübermorgen, nicht morgen.« Eli grinste verschämt. »Die restlichen Februartage musst du natürlich nicht bezahlen.«

»Wie großzügig von dir«, erwiderte Taylor sarkastisch.

Wut keimte in ihr auf, und sie musste sich beherrschen, Eli nicht ins Gesicht zu springen. Zumindest jetzt hätte sie ihn noch aus dem Zimmer werfen können, doch auf einmal wurde ihr die ganze Wohnung zu eng. Ohne ein weiteres Wort nahm sie das Wertvollste, das sie besaß – den Rucksack mit ihrer Kamera – und flüchtete aus dem Apartment.

 

Je weiter sie die Treppe nach unten lief, desto stärker wurde der Geruch nach Glutamat und gebratenem Kohl vom Wok-Imbiss im Erdgeschoss, sodass die Kälte, die Taylor auf der Straße wie eine Ohrfeige entgegenschlug, angenehm erfrischend war. Ohne weiter zu überlegen, steuerte sie den Coffeeshop um die Ecke an. Sie kaufte einen großen Chai Latte und setzte sich damit an die Theke am Fenster. Nach den ersten Schlucken wurde sie ein wenig gefasster und begann, ihre Optionen auszuloten.

Tatsache war, dass sie sich so schnell wie möglich auf Wohnungssuche begeben musste. Aber als Fotografin, deren aktuell einzige Einnahmequelle ein paar Tresenschichten in einer Bar in Williamsburg waren, stellte sie für jeden Vermieter so ziemlich das Gegenteil einer attraktiven Mietkandidatin dar. Was bereits das nächste Problem andeutete: Sie hatte wirklich kaum Geld für die Monatsmiete.

Ein Gefühl der Beklemmung umschloss Taylors Brustkorb und erschwerte ihr das Atmen. Wie so viele Menschen in New York lebte sie ohne große Sicherheiten. Sie konnte sich keine Krankenversicherung leisten, und gespart hatte sie auch nichts. Doch weil es nicht anders funktionierte, hatte sie sich an diesen Zustand gewöhnt. Nur wenn dann zwei Säulen auf einmal wegbrachen, wurde es brenzlig.

Wo sollte sie unterkommen, bis sie etwas Neues fand? Sie dachte an ihre besten Freunde, Gigi und Miles, die in einer kleinen Wohnung in Brooklyn lebten. Allerdings ging das Singer-Songwriter-Paar nächste Woche auf Tournee, und normalerweise vermieteten sie während dieser Zeit ihre Wohnung via Airbnb. Die meisten von Taylors anderen Freunden und Bekannten hausten in konservendosengroßen WG-Zimmern außerhalb Manhattans. Da passte nicht mal ein Blatt Papier zwischen die fensterlosen Wände und das Bett. Blieb noch ihre Mutter, die in einem Brownstone in Brooklyn wohnte. Doch zu ihr konnte Taylor auf keinen Fall.

Das Klingeln ihres Handys unterbrach ihre Grübelei. Hastig wühlte sie im Rucksack nach dem Smartphone. Auf dem gesprungenen Display leuchtete der Name ihrer Halbschwester Rebecca, die heute Geburtstag hatte. Kurz zögerte Taylor, dann riss sie sich zusammen und nahm den Anruf entgegen.

»Rebecca!«, rief sie angestrengt munter. »Happy Birthday! Mensch, da läuft doch was falsch, wenn du an deinem Geburtstag zuerst anrufst.«

Rebecca am anderen Ende der Leitung lachte. »Vielen lieben Dank! Nur weil ich heute siebenundzwanzig werde, habe ich nicht vergessen, wie man eine Nummer wählt. Ich glaube, Demenz setzt etwas später ein. Eigentlich dachte ich, du bist noch bei der Arbeit, und wollte dir auf die Mailbox sprechen.«

Taylor räusperte sich, bevor sie erwiderte: »Ich hab heute meinen Job verloren.«

»Was?!?«, rief Rebecca. »Was ist passiert?«

Taylor registrierte beiläufig, dass Rebeccas Englisch nur dann nicht nach dem einer US-Amerikanerin klang, wenn sie emotional wurde. Es war ein minimaler Unterschied in der Betonung der Wörter, ein wenig härter irgendwie, was man vermutlich nur raushörte, wenn man wusste, dass Taylors Halbschwester erst vor ein paar Monaten nach New York gekommen war. Bis zu ihrem siebten Lebensjahr hatte Rebecca in Brooklyn gelebt. Dann hatte ihre deutsche Mutter sich von Taylors und Rebeccas gemeinsamem Vater getrennt und war mit ihrer Tochter nach Deutschland gezogen. Wenige Jahre später war Dad gestorben.

»Ich hatte dir doch erzählt, dass Todd Philips, der Fotograf, in dessen Assistententeam ich arbeite, ziemlich speziell ist«, begann Taylor.

»Ja, dass er Starallüren hat und eine Diva ist«, ergänzte Rebecca.

»Genau. Heute ist er am Set ausgeflippt, weil er die Models mal wieder nicht mochte. Das war sein x-ter Ausraster diese Woche, und der Chef des Modelabels, für das die Strecke fotografiert werden sollte, hatte die Nase voll und hat ihn gefeuert.«

Kurz überlegte Taylor, ob sie für den Tag zumindest anteilig bezahlt werden würde. Doch dann dachte sie an Philips und musste fast lachen, weil sie die Möglichkeit überhaupt für einen Moment in Erwägung gezogen hatte.

»Oh, Shit. Taylor, das tut mir leid.«

»Mhm, danke«, murmelte Taylor.

»Dann ist dir heute wahrscheinlich nicht nach Feiern zumute«, stellte Rebecca fest.

Damit hatte sie recht, doch das wollte Taylor nicht zugeben. Denn auf keinen Fall würde sie die Chance verpassen, zum ersten Mal mit Rebecca deren Geburtstag zu verbringen. Sie hatte ihre Halbschwester vor einigen Wochen erst kennengelernt, als diese den Kontakt zu ihr gesucht hatte. Der Vater der beiden jungen Frauen war der Grund, weshalb Rebecca überhaupt in den Big Apple gereist war: Sie hatte mehr über ihre Wurzeln erfahren wollen. Seither trafen sie sich so oft wie nur möglich, tauschten sich über Dad aus und versuchten, komprimiert in ein paar Stunden, einander ihr Leben zu erzählen.

»Doch, natürlich!«, entgegnete Taylor. »Denkst du, das lasse ich mir entgehen?«

»Bist du sicher?«, fragte Rebecca.

»Absolut.«

»Okay, wunderbar. Ich wollte dir vorhin nämlich nur sagen, dass wir schon früher in der Bar sein werden, weil wir dort noch was essen wollen. Wenn du Lust und Zeit hast, dann komm doch auch direkt. Ach, Taylor, ich freue mich so, dass du alle kennenlernst.«

»Ich freue mich auch darauf«, sagte Taylor. Sie wollte Rebecca heute auf keinen Fall mit ihren Problemen die Laune verderben. Es war so etwas Besonderes, dass sie den Tag zusammen feiern konnten.

 

Beim Betreten des Pubs im East Village lief Taylor gegen eine Wand aus Wärme und Stimmgewirr. Sie lockerte ihre von der Kälte versteiften Schultern und schaute sich um. Die Location war weder chic noch hip, sondern schlicht gemütlich und ein wenig rustikal – mit Whiskey- und Ginflaschen im Regal hinter der langen Theke und Tischen aus dunklem Holz, die schon jetzt, am frühen Abend, alle besetzt waren. Eine an den Armen tätowierte Kellnerin balancierte Teller mit Burgern und Pommesbergen durch den Raum.

Wahrscheinlich hatte Rebecca bewusst eine unspektakuläre Kneipe ausgesucht, um dort mit ihrem prominenten Freund Alex ihre Ruhe zu haben. Nicht irgendein Alex, sondern Alex Frey, der mit seinem Zwillingsbruder Jeremy vor ein paar Jahren das hypererfolgreiche Computerspiel Rising erfunden hatte. Dies war eine jener seltenen Geschichten, die Menschen darin bestärkte, ihren Glauben an den amerikanischen Traum nicht zu verlieren: Rising, ein Action-Adventure-Game, das Taylor selbst schon gespielt hatte, hatte die Brüder quasi über Nacht zu gefeierten Millionären gemacht. Kurz darauf hatten sie in Manhattan die Firma Freyzy Games aus dem Boden gestampft und seither ihren Gewinn mit jedem weiteren Teil von Rising und mehreren Spin-offs des Spiels konstant gesteigert.

Da die zweieiigen Zwillinge auch noch unverschämt gut aussahen, waren sie sofort zu Lieblingen der Boulevardpresse avanciert, die Alex und Jeremy regelmäßig zu den heißesten Typen Manhattans kürte. Taylor hatte die Brüder lediglich als New Yorker Tech-Celebritys wahrgenommen, die ständig in den Medien auftauchten – bis Rebecca in ihr Leben getreten war und erwähnt hatte, dass sie mit Alex zusammen war.

Sie entdeckte ihre Halbschwester mit eben diesem und einer Afroamerikanerin an einem Tisch in der Ecke. Rebecca blickte im gleichen Moment in ihre Richtung, sprang auf und quetschte sich an den anderen Gästen vorbei zu ihr. Taylor musste lächeln – diese junge Frau, mit der sie die zierliche Statur und die brünetten Haare gemeinsam hatte, war das Beste, das ihr seit Langem passiert war. Sie umarmten sich.

»Happy Birthday, Beccy.« Sie drückte Rebecca fest.

»Oh, Taylor, es ist mit Abstand das schönste Geburtstagsgeschenk für mich, dich gefunden zu haben«, sagte Rebecca und erwiderte den Druck.

Nach einer Weile löste Taylor sich aus der Umarmung und zog das Geschenk für Rebecca aus ihrem Rucksack. »Ich hoffe, das hier ist trotzdem auch ganz nett«, entgegnete sie schmunzelnd.

»Wie lieb von dir, vielen Dank!« Sorgfältig entfernte Rebecca das Geschenkpapier, und das großformatige Buch Humans of New York kam zum Vorschein.

»Du sagst, dass du mehr über deine Geburtsstadt erfahren willst«, erklärte Taylor. »Das ist das Buch zu einem wunderbaren Fotoblog, in dem New Yorker ihre Geschichten erzählen. Wenn du das liest, verliebst du dich noch mal neu in den Big Apple.«

»Das ist toll, danke!« Strahlend gab Rebecca ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich muss dich unbedingt den anderen vorstellen!«, fügte sie hinzu.

So lernte Taylor Chloe kennen, eine ihr auf Anhieb sympathische Lehrerin für Geschichte und Literatur Anfang dreißig, die mit Rebecca in einer WG in Brooklyn wohnte. Alex begrüßte Taylor sehr herzlich, und sie musste sich zusammenreißen, ihn nicht allzu neugierig anzustarren. Es passierte ihr manchmal, dass sie den Blick durch den Sucher der Kamera nicht ablegen konnte – selbst wenn sie ihren Apparat gar nicht dabei hatte. Jetzt, wo Alex vor ihr saß, erschloss sich ihr auf einmal die Faszination, die er auf die Medien ausübte. Mit seinen dunklen Haaren und Augen hatte er etwas Zurückhaltendes, fast Düsteres an sich, das danach rief, ergründet zu werden. Kein Wunder, dass man ihm das Image des Stillen und Geheimnisvollen verpasst hatte, während sein Bruder Jeremy als abenteuerliebender Draufgänger und Womanizer galt.

Die Kellnerin kam an ihren Tisch, und Taylor bestellte nach kurzem Zögern ein Ale. Normalerweise hielt sie sich mit dem Trinken zurück – als Kind einer Alkoholikerin war sie kein Fan des Rauschs. Doch in diesem Augenblick wusste sie sich keine andere Hilfe, um sich ihre Verzweiflung über die Ereignisse des Tages nicht anmerken zu lassen und den anderen nicht die Stimmung zu vermiesen.

Rebecca indes erzählte von ihrem Job als Übersetzerin, Chloe von straffällig gewordenen Jugendlichen in einem Heim in Brooklyn, mit denen sie ehrenamtlich arbeitete, und Alex zeigte Interesse an Taylors Fotojobs.

»Rebecca hat erwähnt, dass du Todd Philips assistiert hast«, begann er und ließ die Ereignisse des Tages, von denen ihm Rebecca vermutlich erzählt hatte, diplomatischerweise unter den Tisch fallen. Als Taylor nickte, fuhr Alex fort: »Philips hat Jeremy und mich letzten Sommer für eine Fashionstrecke fotografiert, ein neues Sportlabel. Wir mussten mehrfach unterbrechen, weil er sich persönlich beleidigt fühlte, als Wolken am Himmel aufzogen.«

Taylor musste lachen. »Ja, das ist die Diva in Hochform. Wie kann das Wetter es auch wagen, sich ihm zu widersetzen?«

Alex grinste. »Die große Überraschung war, dass die Bilder am Ende richtig gut geworden sind. Hätte ich nach der Vorstellung nie gedacht.«

»Das ist das Absurde«, stimmte Taylor zu. »Er ist brillant. Deshalb wollte ich unbedingt in seinem Team arbeiten. Einem Starfotografen wie ihm zu assistieren, kann die Karriere echt pushen. Das hat sich mit dem geplatzten Auftrag nun erst mal erledigt, Philips hat der Welt bei seinem Abgang schreiend mitgeteilt, dass er New York hasse und man ihm in Paris die Füße küssen würde.«

Sie seufzte und trank einen Schluck ihres inzwischen dritten Ales. Da sie den Alkohol nicht gewöhnt war und seit dem Frühstück lediglich einen am Set übrig gebliebenen vertrockneten Bagel gegessen hatte, tat er schnell seine Wirkung, und Taylor wurde zusehends entspannter.

Das änderte sich allerdings, als sie mit den anderen eine Runde Shots exte. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass jemand den Schnaps bestellt hatte – das kleine Glas war auf einmal vor ihr gestanden, und ohne weiter darüber nachzudenken, hatte Taylor es beherzt runtergekippt.

Kurz darauf legte sich ein Weichzeichner über die drei Gesichter an ihrem Tisch, und sie musste verstärkte Konzentration aufbringen, um die anderen mit dem Blick zu fixieren.

»Chloe hat jemanden kennengelernt«, warf Rebecca unvermittelt in die Runde.

Chloe lächelte versonnen.

Puh, okay, hier saßen drei offenbar ziemlich verliebte Menschen. Und dann war da noch Taylor.

»Willst du von ihr erzählen?«, fragte Alex freundlich.

»Sie heißt Brianna und saß auf einer Diskussionsveranstaltung über das Gesundheitssystem neben mir«, antwortete Chloe. »Mehr verrate ich noch nicht, ist alles ganz frisch.«

In diesem Moment verschluckte sich Taylor und musste heftig husten. Sie bemerkte Rebeccas besorgten Blick, hob beschwichtigend die Hand und stand auf. »Entschuldigt mich«, stieß sie hervor.

Sie brauchte Luft, nur kurz zum Durchatmen, und kämpfte sich an den dicht gedrängt stehenden anderen Gästen vorbei in Richtung Ausgang. Der Raum drehte sich, und Taylor musste sich alle Mühe geben, den Weg zur Tür zu meistern. Ein junger Typ mit alkoholverwässerten Augen hielt sie am Ärmel fest und lallte etwas davon, dass er ihr einen Drink spendieren wolle. Taylor riss sich los und knallte mit Schwung in einen anderen Gast.

»Hey!«, rief dieser, mehr belustigt als vorwurfsvoll.

Taylor sah auf und blickte in ein Gesicht, das ihr schemenhaft bekannt vorkam: große braune Augen, dunkle leicht wellige Haare, amüsiertes Grinsen.

»Sorry«, murmelte sie und schlüpfte an dem Mann vorbei nach draußen.

Sie ignorierte die Kälte und sog die eisige Luft der heranbrechenden Nacht tief in ihre Lungen, was schmerzhaft und wohltuend zugleich war.

»Taylor, willst du erfrieren?« Rebecca war hinter sie getreten und verschränkte bibbernd die Arme vor der Brust. »Was ist denn los?«

»Ich glaube, ich habe zu viel getrunken«, antwortete Taylor und lehnte sich an die Mauer des Gebäudes.

»Ich war etwas überrascht, weil du mir erzählt hattest, dass du eigentlich nie trinkst.«

»Ja, das ist auch so.«

»Es ist wegen des Jobs, oder? Machst du dir Sorgen wegen des Geldes? Falls ja, ich habe ein bisschen was gespart. Wenn du willst …«

»Ach, Beccy, du bist so lieb«, unterbrach Taylor ihre Halbschwester. »Das mit dem Geld bekomme ich schon irgendwie hin.« Sie zögerte, bevor sie weitersprach. Doch jetzt machte es auch keinen Unterschied mehr. »Ein weiteres Problem ist: Ich muss bis übermorgen aus meinem WG-Zimmer raus.«

Rebecca bekam große Augen, und Taylor fasste die Ereignisse des Nachmittags in wenigen Sätzen zusammen. Als sie fertig war, strich Rebecca ihr mitfühlend über den Arm und sagte: »Ich gehe kurz zurück an unseren Tisch, ja? Bin gleich wieder da. Aber würdest du mir bitte den Gefallen tun, mit reinzukommen? Du kannst gleich hinter an der Tür stehen – nur bitte drinnen, ja?«

Taylor zögerte, nickte jedoch schließlich und folgte Rebecca zurück in die Kneipe. An die Wand gelehnt wartete sie, bis Rebecca in einem Wollmantel und mit Taylors Sachen zurückkam.

»Ich habe mit Alex gesprochen«, verkündete ihre Halbschwester. »Du kannst erst mal in seiner und Jeremys Wohnung bleiben. Die haben genug Platz.«

»Quatsch, das kann ich doch nicht annehmen!«

»Natürlich kannst du das, für heute Abend sowieso. Ich glaube nicht, dass du noch zurück nach Chinatown fahren willst, oder?«

»Beccy, ich …«

»Wirklich, Taylor, es ist kein Problem. Ich zeige dir jetzt die Wohnung. Sie liegt ganz nah von hier am Tompkins Square Park.«

Taylor versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, war aber schon damit ausgelastet, Rebecca zu fokussieren. »Aber es ist dein Geburtstag«, protestierte sie.

»Und du bist meine kleine Schwester. Ich werde einen Teufel tun, dich im Stich zu lassen, wo ich dich nach all den Jahren erst gefunden habe.«

Taylor musste über Rebeccas entschlossene Miene lächeln. »Ich habe jetzt wirklich eine große Schwester, hm?«

»O ja«, antwortete Rebecca und lächelte ebenfalls.

Ergeben nahm Taylor ihren Mantel entgegen und zog ihn an. Rebecca hakte sich bei ihr unter, und sie verließen die Kneipe.

 

Mit einem Schlag wachte sie am nächsten Morgen auf. Ihr blieb keine Zeit, um sich in der neuen Umgebung zu orientieren, denn sie spürte in diesem Augenblick nur eine einzige alles beherrschende Regung: Ihr war schlecht. Hektisch sprang Taylor aus dem Bett. Sie musste so schnell wie möglich das Badezimmer erreichen – wenn sie sich nach gestern Nacht richtig erinnerte, war es hier irgendwo in der Nähe. Schwungvoll riss sie die Tür auf und stand in einem langen Flur. Wie immer, wenn es galt, sich zwischen zwei Richtungen zu entscheiden, folgte sie dem Mantra »im Zweifel links«. Sie hastete an einem Raum voller Fitnessgeräte vorbei, nahm aus dem Augenwinkel eine Rudermaschine, ein Laufband und einigen Kraftstationen wahr; in der Mitte hing ein Boxsack von der Decke. Und tatsächlich: Schräg gegenüber des Zimmers gab eine offene Tür den Blick in ein großes Bad frei. Erleichtert stob sie hinein.

 

Ohne das Bier von gestern im Magen ging es ihr wenige Minuten später schon etwas besser, vom Pochen hinter ihrer Stirn abgesehen. Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und wagte einen Blick in den Spiegel. Was Taylor sah, war nicht erhebend: Unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab, die Reste ihrer Wimperntusche waren verschmiert, und ihre kurzen Haare standen wild und strähnig in alle Richtungen. Sie spülte ihren Mund aus, um den schalen Geschmack loszuwerden, und schaute sich um. Alles blitzte vor Sauberkeit. Erst jetzt wurde ihr vollends bewusst, dass sie sich in der Wohnung von Rebeccas Freund Alex befand. Rebecca hatte sie gestern Nacht in das Gästezimmer gebracht und etwas von einem Fitnessraum mit Badezimmer in der Nähe geredet.

Taylor stöhnte leise. Nach ihrem Auftritt in der Kneipe hielten sie die anderen nun wahrscheinlich für die reinste Dramaqueen. Sie beschloss, möglichst schnell und unauffällig zu verschwinden, und eilte zurück in das Gästezimmer, um ihre Sachen zu holen. Sie würde sich später bei Alex für den Unterschlupf bedanken.

Während sie das Bett machte, fiel ihr auf, dass um sie herum alles vom Feinsten war: der Parkettboden, die hellen Möbel, die unglaublich bequeme Matratze und die weichen Laken. Die Wand gegenüber des Bettes war eine dieser Mauern mit freigelegten Ziegelsteinen, wie man sie in hippen Bars und Cafés sah. Daran hing ein Flatscreen, der fast so breit wie Taylor groß war. All dieses Brimborium in einem Gästezimmer? Wie sah dann erst der Rest der Wohnung aus? Auf einmal fühlte Taylor sich ganz klein.

Sie trat ans Fenster und schaute hinaus auf die schneeweißen Wipfel der Bäume im Tompkins Square Park. In einer besseren Lage konnte man im East Village vermutlich nicht wohnen. Doch warum überraschte sie das eigentlich? Hier lebten schließlich zwei Multimillionäre, genau jene New Yorker, in deren beleuchtete Fenster man im Vorbeigehen staunende bis neidvolle Blicke warf.

In ihrem Beschluss zur Flucht bestärkt eilte Taylor den scheinbar endlosen Flur entlang, vorbei an einer Treppe, die nach oben in eine weitere Etage führte. Vermutlich befanden sich dort die Räume der Zwillinge. Kaffeeduft stieg ihr in die Nase. Im Vorbeigehen lugte Taylor in den Raum, aus dem er drang. Sie stoppte.

Da standen Rebecca und Alex mitten in einem riesigen Zimmer, durch dessen überdimensionale Fenster so viel Licht fiel, dass Taylor die Augen zusammenkniff. Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, zog sie der intime Anblick des Paares in ihren Bann – es war eines jener Bilder, dessen Wirkung auf den Betrachter man niemals mit einer gestellten Pose hätte erzeugen können, selbst mit den routiniertesten Models nicht. Rebecca und Alex waren vollkommen selbstvergessen, sie nahmen nur einander wahr. Alex, der viel größer war als Rebecca, hatte den Kopf nach unten gebeugt und strich ihr zärtlich über die Wange.

Taylor schluckte. So einen Moment hatte sie noch nie mit einem Mann erlebt, und sie war sich nicht sicher, ob es jemals passieren würde. Die Vorstellung, in einem anderen Menschen derart zu versinken, dass man Raum und Zeit vergaß, war geradezu schmerzhaft romantisch. Sie weckte eine Sehnsucht in Taylor, der sie normalerweise keinen Platz ließ.

Sollte sie die zwei einander überlassen und lautlos verschwinden? Doch irgendwie erschien es ihr jetzt auch nicht mehr richtig, wie ein Dieb heimlich aus der Wohnung zu schleichen. Sie räusperte sich.

Die beiden zuckten zusammen, aber auf Rebeccas Gesicht erschien sogleich ein Strahlen. »Taylor!«

»Guten Morgen«, sagte Taylor verlegen.

»Morgen«, erwiderte Alex.

Rebecca kam auf sie zu und umarmte sie. »Bist du halbwegs okay?«, fragte sie mit besorgter Miene.

Taylor nickte. »Ich bin auch schon so gut wie weg.«

»Jetzt warte mal«, sagte Alex. »Möchtest du einen Kaffee?«

Taylor sah zur Kaffeemaschine, die in der anderen Hälfte des Zimmers in einer offenen Küche auf der Arbeitsplatte stand. Überhaupt, dieser ganze Raum: Er wirkte wie aus einem Katalog für Luxusimmobilien entnommen. An der Kochinsel hätte sich vermutlich jeder Sternekoch liebend gern ausgetobt. Ganz zu schweigen von dem gigantischen Flachbildschirm an der Wand, an dessen Fuß eine Gruppe Ledersofas und -sessel arrangiert war.

»Lass dich von dem Ganzen hier nicht einschüchtern«, sagte Rebecca, als habe sie Taylors Gedanken gelesen.

Ohne weiter auf eine Antwort zu warten, goss Alex Kaffee in eine Tasse und fragte: »Milch? Zucker?«

»Sie trinkt ihn schwarz und ungesüßt«, antwortete Rebecca grinsend. »So viel weiß ich immerhin schon.«

Angesichts der unbefangenen Freundlichkeit der beiden fühlte Taylor sich zusehends wohler und nahm von Alex die Tasse entgegen. »Danke.« Sie lächelte und trank einen Schluck. Der Kaffee schmeckte hervorragend.

»Alex und ich haben besprochen, dass du erst mal hierbleiben kannst, wenn du magst«, sagte Rebecca.

Taylor schaute überrascht von ihrer Halbschwester zu Alex. »Das ist wahnsinnig nett von euch«, erwiderte sie dann, »aber …«

Bevor Taylor weiter protestieren konnte, unterbrach sie ein Mann, der, gefolgt von einer schwarzhaarigen Schönheit, in den Raum trat. »Morgen«, grüßte er in die Runde.

Jeremy Frey. Taylor erkannte ihn nicht nur aufgrund der unzähligen Fotos in Magazinen und Onlineportalen, die sie in den letzten Jahren von ihm gesehen hatte. Ihr wurde zudem klar, dass er der Typ war, mit dem sie am gestrigen Abend im Pub zusammengestoßen war.

»Hi«, sagte seine Begleitung knapp.

Taylor entging nicht, dass Rebecca leicht die Augen verdrehte.

»Hey«, erwiderte Alex.

Jeremy drehte sich zu der Frau. »Kaffee?«

Die Schönheit schüttelte den Kopf. »Ich muss los, zum Training.«

»Okay.« Jeremy gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

»Wir sehen uns?«, hauchte die Frau.

»Klar.« Er grinste und sah ihr kurz nach, wie sie aus dem Raum huschte. Dann widmete er sich der Kaffeemaschine.

»Was trainiert sie denn?«, fragte Rebecca in einem Ton, der wie eine Mischung aus Belustigung und Resignation klang.

»Sie ist Tänzerin.« Mit einer Tasse in der Hand lehnte sich Jeremy an die Kochinsel. Er strahlte die entspannte Selbstsicherheit eines Menschen aus, der genau um seine Wirkung auf andere wusste. Denn, das ließ sich nicht leugnen: Er sah blendend aus. Lange Wimpern umrahmten seine Augen, und seine lässig verwuschelten Haare passten perfekt zum Dreitagebart. Unter seinem Hemd zeichnete sich ein durchtrainierter Oberkörper ab. Es ärgerte Taylor ein wenig, aber sie musste sich eingestehen, dass sie ihn attraktiv fand. Dabei gab es doch eigentlich nichts weniger Attraktives als einen Typen, der soeben seine neueste Eroberung präsentiert hatte.

Es waren aber auch weniger seine offensichtlichen Modelqualitäten, die sie faszinierten. Da war noch etwas anderes, etwas, das sie nicht greifen konnte. Während sie darüber nachsann, wurde ihr schlagartig klar, dass sie Jeremy ziemlich auffällig anstarrte – und er ihren Blick erwiderte. Peinlich berührt senkte sie den Kopf.

»Taylor – Jeremy, Jeremy – Taylor«, stellte Alex vor.

»Hi«, sagte Jeremy. Und da war es. Jenes gewinnende Grinsen, das Taylor von den Fotos aus den Medien kannte. Dieses Grinsen, mit dem Jeremy bei der Eröffnung der hipsten Klubs und Restaurants Manhattans ebenso wie bei Filmpremieren und Fashionshows für die Fotografen posierte – stets mit einer wunderschönen Frau im Arm. Dieses Grinsen, das zu sagen schien: Mir gelingt alles, und ich bekomme alles. Seht selbst!

»Hi.« Taylor lächelte verhalten.

»Bro, ist es okay für dich, wenn Taylor eine Zeit lang im Gästezimmer wohnt?«, fragte Alex.

»Wartet mal«, protestierte Taylor hastig. Sie registrierte, dass Jeremy auf Alex’ Frage hin die Augenbrauen hochgezogen hatte. »Ihr müsst das wirklich nicht für mich tun. Ich finde schon was.«

»Wir haben hier mehr als genug Platz«, widersprach Alex und fügte an seinen Bruder gewandt hinzu: »Oder?«

Jeremy taxierte Taylor einige Sekunden, bevor er mäßig begeistert »Meinetwegen« antwortete und mit der Tasse in der Hand an ihnen vorbei aus dem Zimmer schlurfte.

»Ich glaube, ich starte erst mal einen Rundruf unter meinen Freunden«, kündigte Taylor an.

»Jeremy würde sich melden, wenn er ein Problem damit hätte, dass du hier bist. Mach dir da keine Sorgen«, sagte Rebecca und lächelte aufmunternd. »Außerdem sehen wir uns dann öfter.«

»Na komm«, fügte Alex hinzu, »als Rebeccas Schwester bist du bei uns Ehrengast.«

Seine Herzlichkeit machte Taylor baff. Zugegeben, die Vorstellung, ihre Wohnsituation für die nächsten Nächte geklärt zu haben, war verlockend. Warum eigentlich sollte sie das großzügige Angebot nicht annehmen? Es schien ernst gemeint.

»Okay, ja, danke, Alex!«, sagte sie schließlich. »Ich werde bestimmt nicht zu lange bleiben. Gleich heute fange ich mit der Suche nach einem neuen WG-Zimmer an.«

»Kein Stress. Du kannst bleiben, solange du willst«, entgegnete er.

2. Jeremy

Hi, Jeremy, sehen wir uns heute Abend wieder? xx Liz

 

Grübelnd saß Jeremy im Büro hinter seinem Schreibtisch und betrachtete die Nachricht auf dem Handydisplay. Vor wenigen Stunden erst hatte er Liz im Apartment verabschiedet – wozu also die Eile? Die Nacht mit ihr war toll gewesen, keine Frage. Ihre Grazie war ihm schon in der Kneipe aufgefallen. Er hatte auf Tänzerin getippt, bevor sie es erzählt hatte: Ihre extrem aufrechte Haltung hatte sie verraten. Jeremy hatte es genossen, ihren feingliedrigen, durchtrainierten Körper zu berühren und zu spüren. Nur hieß das nicht unbedingt, dass er gleich zwei Nächte hintereinander mit ihr verbringen wollte. Wobei … Es war Freitag, und er hatte noch keine anderen Pläne für den Abend. Also mal sehen.

Jeremy warf Alex einen Blick zu. Dieser hatte Kopfhörer auf und schaute sich auf seinem Monitor konzentriert Videoschnipsel aus Rising 5 an, die die Sounddesigner mit neuen Geräuschen unterlegt hatten. Hin und wieder lächelte er.

Es war wunderbar, Alex so ausgeglichen zu erleben. Auch wenn Jeremy es anfangs nicht geglaubt hatte – Rebecca tat seinem Bruder gut. Alex hatte seit dem Unfalltod ihrer Eltern vor bald fünfzehn Jahren immer wieder mit seinen inneren Dämonen gekämpft. Fast wäre er daran zerbrochen. Und das mehr oder weniger hilflos mit ansehen zu müssen, war für Jeremy schier unerträglich gewesen. Doch Rebeccas Auftauchen hatte etwas in Alex gelöst – als sei seither sein Lebensmut neu erwacht. Schon allein deshalb gab Jeremy sich alle Mühe, nett zu ihr zu sein, vor allem nach den Missverständnissen zwischen ihr und Alex im letzten Jahr, an denen Jeremy nicht ganz unschuldig gewesen war. Also hatte er auch heute Morgen seinen Widerspruch hinuntergeschluckt, als Alex Rebeccas Halbschwester angeboten hatte, bei ihnen zu wohnen.

Dabei war er alles andere als begeistert, denn wenn Jeremy das richtig mitbekommen hatte, war Taylor Fotografin. Alex und er wussten nichts über sie, und auch Rebecca hatte sie erst vor einigen Wochen kennengelernt. War es da nicht ziemlich naiv, sie mal eben in die Wohnung und damit in ihr Leben zu lassen? Woher wussten sie, dass sie ihr trauen konnten? Was, wenn es ihr darum ging, private Details aus ihrem Leben an die Öffentlichkeit zu bringen? Noch mal: Sie war Fotografin! Bemerkte nur er den Zusammenhang? Er musste herausfinden, was für Bilder Taylor machte – gerade jetzt, wo der Tag näher rückte. Den zweiten März hatten sich vermutlich sämtliche Boulevardmedien in ihren Kalendern rot markiert und dazu noch einen Event-Alert erstellt. Der Tag, an dem die Eltern der Frey-Zwillinge gestorben waren. Jeremy sah schon die Schlagzeilen vor sich:

Das Trauma der Frey-Hotties: Heute vor fünfzehn Jahren geschah das schreckliche Unfalldrama, bei dem ihre Eltern starben!

 

Nach Jahren im Rampenlicht wusste Jeremy, dass die Presse den Jahrestag zum Anlass nehmen würde, genüsslich alle Infos, die über den Unfall durchgesickert waren, noch einmal aufzubereiten. Am liebsten wäre er an dem Tag mit Alex irgendwo weit weg, idealerweise an einem Ort ohne Internetempfang. Doch Jeremy brachte es einfach nicht über die Lippen, das Thema anzusprechen, weil er fürchtete, seinen Bruder damit runterzuziehen. Denn wie würde es Alex ergehen, wenn er merkte, dass Jeremy solchen Bammel vor dem blöden Datum hatte? Abgesehen davon: Was, wenn Alex den Tag lieber mit Rebecca verbringen wollte?

Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken. Er sammelte sich und nahm ab. »Hollywood ist da«, informierte ihre Assistentin Lumen.

»Alles klar, wir kommen gleich«, sagte Jeremy.

Alex nahm die Kopfhörer ab und fragte: »Die Filmleute?«

Jeremy nickte.

»Ich bin nach wie vor mehr als skeptisch«, stellte sein Bruder fest.

Seit Monaten wurden sie von einem großen Filmstudio mit Sitz in L.A. umworben, das aus Rising einen Blockbuster machen wollte. Alex hatte von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, dass er gegen eine Verfilmung war. Jeremy hatte ihn nun zumindest zu einem Treffen überreden können.

»Ich habe noch mal darüber nachgedacht«, fuhr Alex fort. »Ich meine, kennst du einen einzigen richtig guten Film, der auf einem Computerspiel basiert?«

»Resident Evil?«

Alex runzelte die Stirn. »Na ja.«

»Lass uns zumindest mal anhören, was sie zu sagen haben, okay?«, sagte Jeremy leicht gereizt. Warum musste Alex in der Sache so eine Spaßbremse sein? Jeremy war Feuer und Flamme für das Filmprojekt. Das war genau die Abwechslung, die er brauchte.

 

Als sie in den Konferenzraum traten, verschlug es ihm für einen Moment die Sprache. Da saß Amanda Ellis! Die Amanda Ellis, die seit ihrer Rolle in dem Sci-Fi-Drama End of Blue letztes Jahr als neuer Liebling Hollywoods gehypt wurde und mit einer ansehnlichen Palette an prominenten Datingpartnern von sich reden machte. Wahnsinn, die Frau war aber auch der Hammer mit ihren langen blonden Haaren, den Katzenaugen und den hohen Wangenknochen. Brandon Porter, der leitende Studiogeschäftsführer, hatte erwähnt, dass sie bereits eine Schauspielerin für die Hauptrolle ins Auge gefasst hatten. Er hatte aber nicht gesagt, dass es sich dabei um Amanda Ellis handelte – und ebenso wenig, dass sie bei dem Meeting dabei wäre.

Kluger Schachzug, dachte Jeremy anerkennend: Die Überraschung war Porter geglückt. Dieser sprang auf, begrüßte sie so überschwänglich, als seien sie alte Freunde, und stellte ihnen die Regisseurin Mio Tanaka sowie überflüssigerweise Amanda vor. Auch Tanaka war eine Nummer, mehrfach ausgezeichnet für ihre Regiearbeit im Action-Genre.

Jeremy schielte zu Alex. Falls sein Bruder beeindruckt war, ließ er es sich nicht anmerken. »Alex, Jeremy, so darf ich euch doch nennen, oder?«, begann Porter, nachdem sie alle am Tisch saßen. »Erst mal, Jungs, ich verstehe absolut nicht, was euch mit Freyzy Games als einsamer Fels in der Brandung noch an der Ostküste hält – bei diesem Winter? Ich meine, New York, okay, und euer Gebäude hier in NoHo ist auch ganz hübsch, aber als wir vorhin aus dem Flughafen ins Freie traten, hätte ich fast geweint, so kalt war es.«

Während Porter schwafelte, musterte Jeremy Amanda unauffällig. Sie hatte den Kopf in Porters Richtung gewandt und hörte regungslos zu. Vielleicht war es das Licht, das durch die Fensterfront fiel und ihre Haare hell leuchten ließ. Oder das silberfarben glitzernde Oberteil, das sie unter ihrem Blazer trug. Oder es waren ihre rubinrot geschminkten vollen Lippen. Jedenfalls strahlte Amanda so viel Glamour aus, dass sie im Konferenzraum völlig fehl am Platz wirkte und Jeremy sie sich viel eher auf dem roten Teppich vorstellen konnte. In End of Blue hatte es diese eine Szene gegeben, in der Amanda so gut wie nackt zu sehen war. Die Erinnerung daran half ihm jetzt nicht gerade dabei, sich zu konzentrieren. Mit einem Wusch schoss Jeremys Blut vom Kopf in seinen Schwanz, und es vergingen einige Sekunden, in denen er an nichts anderes mehr denken konnte als daran, wie gern er mit dieser Frau Sex hätte. Er wollte in diese Haare greifen, diese Lippen küssen und Amandas Wahnsinnskörper unter sich spüren. O Mann. Nur mit Mühe entsann er sich der Gegenwart der anderen und riss sich zusammen.

»Mein Sohn ist ein Riesenfan von Rising – er spielt nichts anderes«, erzählte Porter derweil. »Und wisst ihr, irgendwann saß ich daneben, schaute ihm beim Zocken zu und wusste sofort: Das Ding müssen wir verfilmen.« Er strahlte sie an. »Und das Beste ist: Wir haben Mio Tanaka!« Er deutete auf die Regisseurin. »Wer könnte besser qualifiziert sein, ein Action-Adventure-Game zu verfilmen?«

Das war offenbar Tanakas Stichwort, denn sie lächelte kurz und griff den Faden auf: »Rising war von Anfang an in mehrfacher Hinsicht absolut progressiv: Story, Technik, Grafik. Deshalb ist für uns klar, dass der Rising-Film das auch werden muss. Unsere Zielgruppe geht weit über die Gamerszene und das übliche Publikum eines Action-Blockbusters hinaus. Mit einer weiblichen Protagonisten werden wir …«

»Tut mir leid, dass ich unterbreche«, schaltete Alex sich ein. »Aber warum sollten wir unsere Kernmarke, das Spiel, auf dem unser Unternehmen gründet, in Ihre Hände geben? Was soll uns das bringen?«

»Was mein Bruder sagen will«, schob Jeremy beschwichtigend hinterher, »ist, dass wir trotz der Größe von Freyzy Games mit mehreren Hundert Mitarbeitern immer so etwas wie eine Indie-Firma geblieben sind. Das schätzen unsere Fans, und das macht einen Teil unseres Erfolgs aus.«

»Aber ihr habt doch sicher Interesse daran, mit Rising noch viel mehr Menschen zu erreichen, oder nicht?«, entgegnete Porter.

»Wenn es uns einfach nur um noch mehr Geld ginge, hätten wir Freyzy Games längst an einen der großer Publisher verkauft«, widersprach Alex.

Spätestens jetzt erkannte Jeremy, dass das Meeting vollkommen sinnlos war. Alex blockte ab. Er hatte dem Termin sowieso nur Jeremy zuliebe zugestimmt, weil sie ein Team waren und die Wünsche des anderen respektierten. Und genau aus diesem Grund würde Jeremy Alex vor den Filmleuten nicht in den Rücken fallen, obwohl ihn die ablehnende Haltung seines Bruders enttäuschte und verärgerte.

»Brandon, ich fürchte, wir kommen hier nicht zusammen«, sagte er und beobachtete dabei Amanda aus dem Augenwinkel. Sollte es ihr etwas ausmachen, versteckte sie es gut. Sie hatte die ganze Zeit keinen Ton von sich gegeben.

»Jungs, überlegt euch das doch noch mal«, sagte Porter. Er holte zwei Mappen aus seiner Tasche und schob sie über den Tisch. »Schaut euch unser Konzept in Ruhe an. Amanda und ich haben in der Stadt zu tun und bleiben noch ein paar Tage hier«, ergänzte er und zwinkerte Jeremy zu.

Oha. Miss Ellis würde noch in New York verweilen. Das war definitiv eine interessante Info. Normalerweise hätte Jeremy spätestens jetzt ein Date mit ihr klargemacht, doch das wäre in dieser Situation unprofessionell gewesen. Ja, verdammt, er war scharf auf sie, aber so weit hatte er sich dann doch unter Kontrolle. Was aber nicht hieß, dass er die Sache abhaken würde. Er hatte noch immer die Frauen bekommen, die er wollte.

 

Zurück im Büro konnte Jeremy seinen Unmut über Alex nicht länger im Zaum halten. »Hättest du dir nicht wenigstens den Pitch der Regisseurin ganz anhören können?«, fuhr er seinen Bruder an.

Alex setzte sich, verschränkte die Arme und erwiderte ruhig: »Ich hielt das für Zeitverschwendung.«

»Wie kannst du das wissen, wenn du sie nicht mal ausreden lässt? So bist du doch sonst nicht drauf.«

Alex fixierte ihn nachdenklich, bevor er sagte: »Für das Studio ist das ein Filmprojekt von vielen, das vielleicht erfolgreich sein, genauso aber auch floppen könnte. Für uns bedeutet es, dass wir alles aufs Spiel setzen, was wir bisher erreicht haben. Wir haben keine Kontrolle darüber, ob der Film gut wird und unseren Fans gefällt.«

»Aber wir hätten den Vertrag mit Porter so aushandeln können, dass wir diese Kontrolle haben, so scharf wie sein Studio auf die Verfilmung ist«, widersprach Jeremy.

»Das glaubst du doch selbst nicht.« Alex rieb sich die Augen. »Geht es dir um Amanda Ellis?«, fragte er dann.

Jeremy fühlte sich ertappt. »Ich wusste nicht mal, dass sie für die Hauptrolle vorgesehen war«, verteidigte er sich.

Alex zuckte die Schultern. »Worum geht es dir dann, Jeremy? Noch mehr Geld? Wozu? Wir haben weit mehr als genug.«

Jeremy schnaufte genervt. »Es geht mir nicht um die Kohle, sondern…«, er suchte nach Worten, »… um den Spaß, um was Neues.«

Alex stand auf, steckte sein Smartphone ein und nahm seine Jacke von der Garderobe. »Sorry, aber was immer du da gerade kompensieren musst – such dir einen anderen Weg als ein Filmprojekt, mit dem wir unsere Firma riskieren.«

Mit diesen Worten ließ er ihn im Büro zurück.

 

Stunden später war Jeremy noch immer wütend und frustriert. Daran hatte auch das spontane Date mit Liz nichts geändert, von dem er schon gegen zwei Uhr am Samstagmorgen durch das East Village nach Hause spazierte. Es hatte mal wieder zu schneien begonnen, und die Straßenlaternen warfen gelb-weiße Lichtkegel in den Nachthimmel. Die Fenster der überfüllten Bars und Kneipen waren von innen beschlagen, der Anblick der im Warmen plaudernden und lachenden Gäste hatte etwas Heimeliges. Jeremy kam der Gedanke, dass man die winterliche Atmosphäre fast romantisch finden könnte – und wunderte sich sogleich, was für seltsame Dinge ihm durch den Kopf waberten. Ja, wirklich, was zur Hölle war los mit ihm? Nicht mal der Sex mit Liz hatte seine Laune verbessert – im Gegenteil: Irritierenderweise war während des Abends ein Film vor seinem inneren Augen abgelaufen, der stets zeigte, was als Nächstes passieren würde. Es war, als wären sie einem fertigen Skript gefolgt, das keinerlei Überraschungen zu bieten hatte.