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River Jordan – WAS ICH ERLEBTE, ALS ICH ANFING, FÜR FREMDE MENSCHEN ZU BETEN – Aus dem amerikanischen Englisch von Doris C. Leisering – SCM Hänssler
SCM – Stiftung Christliche Medien

ISBN 978-3-7751-7167-0 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5478-9 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

© der deutschen Ausgabe 2013
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: info@scm-haenssler.de

Originally published in English under the title: Praying for Strangers.

Trotz intensiver Nachforschungen konnten leider nicht alle Inhaber von Zitatrechten ermittelt werden. Der Verlag dankt für Hinweise.

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

Übersetzung: Doris C. Leisering

Der Entschluss

Die große Tragödie des Lebens sind nicht die unbeantworteten Gebete, sondern die ungebeteten.

F. B. Meyer

Meine Söhne ziehen in den Krieg. An etwas anderes kann ich in der Vorweihnachtszeit 2008 nicht denken. Meine beiden Söhne werden gleichzeitig im Ausland stationiert. Einer im Irak und einer in Afghanistan. Plötzlich scheint mir die Weihnachtszeit unendlich wichtig. Wir müssen zusammen sein. Alles muss perfekt sein. Denn – was, wenn …? Das geht mir durch den Kopf, und genau das wage ich nicht zu sagen. Was, wenn es unser letztes gemeinsames Weihnachten ist? Was, wenn es das letzte Mal ist, dass ich meine Söhne in diesem Leben sehe? Was, wenn es das letzte Mal ist, dass ich sie zusammen sehe?

Normalerweise habe ich, wenn ich auf das Ende des alten Jahres zugehe, das neue bereits im Kopf. Schon zu Thanksgiving1 denke ich oft über meine Neujahrsvorsätze nach. Jedes Jahr betrachte ich sie als eine Möglichkeit, mich selbst zu vervollkommnen, all die Dinge aufzuholen, die ich mein Leben lang nicht erreicht habe, jetzt aber in einem Jahr schaffen kann. Ich werde vorwärtskommen, indem ich drei neue Sprachen lerne, Schach spiele oder für den Rest meines Lebens jeden Tag Sport treibe. Jedes Jahr versage ich, wenn man es überhaupt so nennen kann. Ich mache einfach nicht weiter, weil das Leben meiner Begeisterung, »wie ein Geheimagent« Italienisch sprechen zu lernen oder Quantenphysik zu verstehen, in die Quere kommt. Der Grund, dass diese Vorsätze sich ungeachtet meiner besten Absichten in Wohlgefallen auflösen, liegt wohl letzten Endes darin, dass diese Dinge letztlich nicht viel mit meiner Lebenswelt, mit meinem Alltag zu tun haben. Ich treffe mich zum Mittagessen nicht mit italienischen Geheimagenten, gefolgt von einer erfrischenden Partie Schach, bei der wir über die Möglichkeiten diskutieren, die sich ergeben würden, wenn dieses Ding namens String-Theorie sich als zutreffend erweisen würde. Mein Leben muss zu meinem Alltag passen; es muss zu dem Bild passen, das mir morgens im Spiegel begegnet. Also lösen sich die Vorsätze, all die wunderbaren Herausforderungen, die das Leben bereichern, in Luft auf.

In diesem Jahr ist es anders. Die Vorsätze sind mir völlig egal. Das Einzige, woran ich denken kann, sind die Gesichter dieser beiden jungen Männer und dass sie wieder heimkommen. Nachts schlafe ich nicht gut. Ich glaube, ich habe angefangen, mit den Zähnen zu knirschen. Die Vorsätze sind den Bach runter. Es ist nicht das richtige Jahr für Vorsätze.

Dann, wie aus heiterem Himmel, landete ein Vorsatz in meiner Seele. Ich stand gerade in der Küche, als es passierte. Ich erstarrte einen Moment lang. Wahrscheinlich sah ich aus wie der Hund vor dem Grammophon in dieser alten Werbung, den Kopf auf die Seite gelegt. Ich dachte … Hmmm. Die Idee fiel mir direkt in die Seele, so wie sonst ein Titel für einen neuen Roman oder die Handlung für eine Geschichte.

Neujahrsvorsatz – Bete jeden Tag für einen Fremden.

Plötzlich hatte ich eine Inspiration, wie etwa, wenn mir eine neue Figur für eine Geschichte einfällt. Manchmal erhasche ich einen kurzen Blick auf das Gesicht einer Figur oder höre eine Dialogzeile, und dann stelle ich die Idee auf mein »Schreibregal«, bis ich beim Arbeiten wieder darauf zurückkommen kann. Ich stelle also das Beten für Fremde direkt neben die barfüßige Figur, die seit sieben Jahren auf ihrer Veranda sitzt und darauf wartet, dass ich anfange, ihre Geschichte zu erzählen. Ich schiebe den Gedanken nicht weg, denn im gleichen Moment, in dem er mir kommt, muss ich an einen anderen Tag vor vier Jahren denken, als eine Fremde meinen Weg kreuzte. Ihr Name war Esther.

Ich lag auf einer Decke im Bicentennial-Park. Eine Frau mit unzähligen Tüten und Taschen kam auf mich zu. Zuerst sprach sie mit sich selbst, dann mit mir. Sie trat an mich heran und fragte, ob ich einen Dollar übrig hätte.

»Nein«, sagte ich, und das war die Wahrheit. Normalerweise habe ich immer einen Dollar übrig und es ist mir egal, wofür er ausgegeben wird. Es geht mich nichts an, ob der Dollar für Alkohol oder die Lotterie oder eine warme Suppe ausgegeben wird. Mich interessiert nur das Geben. Aber an diesem Tag hatte ich keinen Dollar dabei.

»Keinen Dollar«, sagte ich. »Nicht mal zehn Cent.«

Die Frau hielt inne. Sie schaute zu mir herunter. Ich hielt meine Hände über die Augen, um sie vor der Sonne zu schützen, und konzentrierte mich auf den Schatten der Frau. Sie stellte ihre Tüten und Taschen ab und wühlte in ihren Hosentaschen. »Hören Sie«, sagte sie, »Gott sei mir gnädig, wenn ich nicht etwas zu geben habe. Lassen Sie mich Ihnen aushelfen.« Und so zog sie einen abgewetzten Dollarschein aus ihren Jeans, einen Dollar, der wohl schon einiges gesehen hatte, und fischte einige Münzen aus einem halben Dutzend Taschen. »Für Sie«, sagte sie. Ich setzte zum Protest an, aber sie zog ihr Hosenbein hoch und zeigte mir ihr Metallbein, an dem ein Metallfuß angebracht war. »Hab ich bei einem Unfall verloren«, erklärte sie. »Ich muss den Leuten nur mein Bein zeigen und ihnen meine Geschichte erzählen. Ich bekomme schon wieder einen Dollar.«

Garantiert, dachte ich. Und warum auch nicht? Wenn das Metallbein nicht einen Dollar wert gewesen wäre, dann doch sicher seine Geschichte.

Schließlich fragte sie mich nach meinem Namen – der ihr sehr gefiel – und sagte mir ihren: Esther.

Dann riet Esther mir, den Bernsteinton in meinem Haar zu behalten und immer Erdtöne zu tragen. »Hören Sie gut zu, was ich jetzt sage.« Sie suchte nach einem Streichholz. »Und vergessen Sie nicht, zu Ihrer Haut sehen Erdtöne am besten aus. Sie rauchen nicht, oder?«

»Nicht mehr.«

»Vielleicht glauben Sie mir nicht, aber ich weiß, was ich sage. Mit Farben kenne ich mich aus.« Sie gab die Suche nach Feuer auf, schob die Zigarette zurück in die Packung und sagte dann: »Ich schätze, Gott sagt mir, dass ich die nicht brauche.«

Als Autorin ist mein Leben von Geschichten durchzogen. Geschichten, die ich schreibe, die ich als Kind gehört und die ich gelesen habe. Als ich Esther mit ihrer ausgestreckten Hand anschaute, musste ich sofort an die Geschichte von dem Mann denken, der an einem Bettler auf der Straße vorbeikam, der ihn immer wieder um eine Münze bat. Schließlich sagte der Mann zu ihm: »Ich habe keine Münzen für Sie. Ich habe nichts weiter als meine Gebete, aber die gebe ich Ihnen gern.« Also bot ich Esther an, für sie zu beten. Immerhin war und bin ich Christ. Was sonst konnte ich für eine obdachlose Frau mit nur einem Bein tun, wenn ich kein Essen oder Geld bei mir hatte?

Ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr, ob ich in dem Moment für Esther betete, für ihr Metallbein oder für ihre (nicht vorhandenen) Reichtümer. Aber ich weiß noch, dass Esther für mich betete. Denn das tat sie wirklich. Ein autoritäres Ganz-sicherhört-mich-jemand-Gebet. Ein Ich-habe-die-Bibel-gelesen-Gebet. Ein großzügiges Gebet. Aus ihrem vollen, obdachlosen Herzen betete Esther für mich Pilgerin.

Als sie ging, sagte sie noch: »Denken Sie in Ihren Gebeten an mich, River Jordan.« Dann lobte sie Gott für etwas, das ich nicht hören konnte, und hob ihre Hände zum Himmel empor. Nur einen Augenblick lang schaute ich ihr nach und dachte an die Geschichten über unerkannte himmlische Engel, die meine Groß mutter mir erzählt hatte. Für sie konnte jeder Fremde, den sie auf der Straße traf, ein Engelswesen in Menschengestalt sein. Wie die Götter aus der griechischen Mythologie, die gesandt waren, um den menschlichen Geist auf die Probe zu stellen. Doch Esther sah ganz real aus. Eine ganz reale Frau, minus ein Bein.

Später fragte mein Mann mich ungläubig: »Du hast Geld von einer obdachlosen Frau angenommen?«

»Ja«, sagte ich, »und Süßigkeiten auch. Schau mal, sie hat mir noch mehr gegeben.« In der Tat. Pfefferminzbonbons und alte Kaugummis. Ich hob sie noch lange, lange Zeit auf, bevor ich sie schließlich wegwarf. Ich könnte nicht logisch erklären, warum ich das tat: Geld und Süßigkeiten von jemandem anzunehmen, der auf und zwischen den Straßen unserer Stadt lebt. Doch es hatte nichts mit Logik zu tun. Es waren nur Esther und ich in einem gemeinsamen Augenblick im Park. Ein schlichtes Stück Zeit, in dem ein menschliches Wesen einem anderen begegnete und es eine kleine Zeitblase gab – jenen Moment, in dem man von Fremder zu Fremder erkennt, dass wir beide am Leben und gleich waren, trotz allem. Dass wir Schwestern waren, die Geschichten zu erzählen hatten. Dass wir einige Minuten, oder sogar Stunden, in der Gesellschaft der jeweils anderen verbringen konnten und beide als bessere Menschen aus dieser Begegnung hervorgingen.

Später am gleichen Abend ging ich in eine Kirche und legte Esthers Geld in die Kollekte. Ich schrieb ihre Geschichte und ihren Namen hinten auf den Umschlag; dann hielt ich einen Moment inne, bevor ich mich zum Gehen wandte. Ich dachte darüber nach, wie das kleinste Geschenk als das größte gelten konnte. Darüber, wie es das größte Geschenk überhaupt sein konnte, wenn jemand alles opferte, was er hatte, auch wenn es nur so wenig war. Darüber, wie Esthers Dollar von reiner Selbstlosigkeit strotzte. Über offene Hände, die nicht zur Faust geballt waren. Und dann betete ich um ein Wunder für Esther. Als ich den zerknitterten Dollar auf den Opferteller legte, waren meine Gebete von den stärksten Worten und Bildern erfüllt, die mir in den Sinn kamen.

In manchen Nächten klingen Esthers Abschiedsworte, »Beten Sie für mich, River Jordan«, wie ein Echo in meiner Seele nach. Nicht in jeder Nacht, aber in manchen. Besonders in kalten Nächten, wenn ich in meinem warmen Bett liege, denke ich kurz vor dem Einschlafen an sie und bete: »Herr, bitte gib, dass Esther es heute Nacht warm hat. Und gib ihr etwas zu essen, und beschütze sie.« Ich weiß nicht immer, ob mein Gebet etwas bewirkt hat, aber ich hoffe es zumindest.

Und all das fällt mir im Bruchteil einer Sekunde ein, als ich diesen Satz höre – Bete jeden Tag für einen Fremden. So sieht das also aus; ich verstehe. Ich weiß, wie es aussieht, wenn ein völlig Fremder, der einem über den Weg läuft, für einen betet.

Aber im Moment mache ich mir nicht so viele Gedanken um die Esthers der Welt. Viel mehr Gedanken mache ich mir um das Thanksgiving-Essen und den Weihnachtsurlaub, den wir alle zusammen in dieser großen Hütte in den Bergen verbringen wollen, und darum, dass auch jeder kommen kann.

Genau genommen bin ich wohl näher am Rand der Hysterie, als mir bewusst ist, denn ich sage immer wieder: »Kosten spielen keine Rolle! Geld spielt keine Rolle! Entfernung spielt keine Rolle! Wir müssen nur alle zusammen sein!« Fragen Sie einfach meine Familie; ich glaube, sie würde das mit der Hysterie bestätigen …

Für Fremde zu beten steht nicht, ich wiederhole: nicht!, ganz oben auf meiner Liste. Ganz oben auf meiner Liste steht nur eines: dass meine Söhne das Jahr überleben und wohlbehalten nach Hause kommen. Ganz und gar nicht herrlich und heilig. Im Moment sind mir alle anderen egal. Und ich bin auch ein bisschen wütend. Okay – ein bisschen ist untertrieben. Ich bin wütend über alle Kriege. Ich bin wütend, weil ich die Gedankengänge, aufgrund derer unsere Armee überhaupt an jene Orte gelangt ist, nicht hundertprozentig nachvollziehen kann. Ich bin wütend, dass unsere Freiwilligenarmee an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit ist und dass die Mehrheit der Amerikaner dieser Situation emotional unbeteiligt gegenübersteht. Ich bin keine Pazifistin, und man kann mich auch keiner politischen Partei zuordnen, also ist das nicht der Grund. Ich bin einfach wütend. Ich will nicht, dass meine Söhne in ein Kriegsgebiet gehen. Darauf läuft es hinaus. Aber wie mein Vater, ihr großer »Opapa« vor ihnen, der in Korea und Vietnam diente, haben sie das Militär im Blut. Zumindest ist das der Momentanzustand. Wenn sie in den Spiegel schauen, sehen sie Soldaten. Ich nicht.

Ich sehe den Tag, als sie zum ersten Mal allein mit dem Schulbus fuhren. Ich sehe den Tag, an dem sie Fahrrad fahren lernten, als sie pfeifen, schwimmen und angeln lernten. In meinem Herzen liegen ihre gesamten Lebensgeschichten. Das ist es, was ich sehe – ihr ganzes Leben vor meinen Augen. Und der Gedanke, dass sie an einen Ort geschickt werden, der fremd und feindlich ist, im Krieg mit uns und mit sich selbst … o Mann! Und dann stehe ich hier mit der vagen Vorstellung von einem Neujahrsvorsatz im Hinterkopf, für Menschen zu beten, die ich nicht kenne und die mir egal sind.

Für 2009 habe ich eigentlich schon genug um die Ohren: zwei Söhne im Militär und im Auslandseinsatz, eine Familie, die ihre eigenen besonderen Bedürfnisse und Gebetsanliegen hat, einen neuen Roman, der erscheinen soll, bereits geplante Reisen und neue Termine, die ich einhalten muss. Ach, und habe ich bereits erwähnt, dass meine beiden Söhne im militärischen Auslandseinsatz sind? Natürlich. Aber ehrlich gesagt geht mir dieser Gedanke einfach so oft durch den Kopf. Im Moment mit jedem zweiten Atemzug. Für einen Fremden beten – klar, logisch. Ich brauche Gebet, und zwar jede Menge, nur um weiter atmen und arbeiten zu können, um mein Leben weiterführen und mich weiter um meine Lieben kümmern zu können. Ich fühle mich nicht wie Mutter Teresa, nicht besonders selbstlos und heilig. Ich bin müde, überarbeitet und habe selbst eine doppelte Portion Sorgen.

Auf das neue Jahr gehe ich mit einem einzigen stillen Gedanken zu – es geht nur um die Familie, die Familie, die Familie. Ach ja, und dann versuche ich noch, das perfekte Fest zu organisieren. Eines, an das sich jeder buchstäblich ein Leben lang erinnert. Zum ersten Mal in unserem Familienleben treffen wir uns in einem Skigebiet in den Blue Ridge Mountains. Mein Cousin und bester Freund holt meine Mutter mit dem Auto aus Nordflorida ab. Meine Schwester hat sich Urlaub genommen und bringt Nichte und Neffe mit. Mein Ältester packt die Familie ins Auto und kommt ebenfalls in die Berge. Mein Jüngster, der bereits in Fort Dix antreten musste, bekommt für Weihnachten eine Freistellung und trifft sich mit uns in Nashville. Dort werden wir uns diesem seltsamen, verstreuten Konvoi anschließen und uns auf dem Berg in einem heiligen Moment seligen Zusammenseins versammeln.

Wenn ich sage, dass ich die Geschichten meiner Söhne in meinem Herzen trage, dann ist es bei mir genauso wie bei anderen Müttern. So sehen wir unsere Kinder nun einmal – nicht nur, wie sie sind, sondern auch, wie sie in den verschiedenen Phasen waren. Für Weihnachten habe ich sorgfältig alte Fotoalben durchforstet, Alben, die so alt sind, dass die Fotos darin aufgenommen wurden, als es noch Fotoapparate gab, in denen etwas namens Film enthalten war. Ich habe viele, viele dieser Bilder ausgesucht und von einem ganzen Sack Fotos Abzüge machen lassen. Das ist mein Weihnachtsgeschenk an meine Söhne. Bilderbücher davon, wie sie waren. Bilder von ihnen zusammen und wie sie aufgewachsen sind. Natürlich weiß ich genau, dass sie womöglich nur die Augen über ihre sentimentale Mutter verdrehen werden, aber ich bin fest entschlossen, dass sie … ja, was? Sich erinnern. Situationen noch einmal erleben, wenn auch nur für einen Augenblick. Eine Verbindung von Bruder zu Bruder aufbauen, nicht wie Männer, sondern wie Jungen, die gemeinsam Hütten bauen, Fahrrad fahren und im Schatten des jeweils anderen aufwachsen. Jungen, die mir und einander auf eine Art und Weise gehörten, wie sie heute nicht mehr möglich ist, weil sie jetzt Männer sind.

Die Reise verläuft nicht gerade nach Plan. Mein Neffe wird krank und meine Schwester muss daheimbleiben und ihn pflegen. Wir versuchen, in Kolonne zu fahren, werden getrennt und verfahren uns. Und dann geschieht etwas Schreckliches. Unsere geliebte Tante Kate, die letzte, die von den Geschwistern meiner Mutter noch lebt, stirbt, während wir auf dem Weg zu unserem Familientreffen sind. Wir denken über unsere momentane Situation nach, und wir sprechen darüber – darüber, dass die beiden »Jungs«, wie wir sie in der Familie nennen, in einen militärischen Auslandseinsatz müssen. Und dann sagen wir all das nicht, was wir darüber denken. Das tun wir nie. Meine Mutter kämpft sich tapfer durch, kommt trotzdem in die Blue Ridge Mountains, obwohl sie weiß, dass sie nach diesem Familientreffen die schwere Aufgabe hat, ihre Schwester zu beerdigen. Am Ende kommen wir alle an – spät, müde, todtraurig und überglücklich, zusammen zu sein.

Doch seltsame Dinge passieren, obwohl die Ereignisse um mich herum schwer auf meinem Herzen liegen. Ich beginne, bei unseren Pausen unterwegs die Menschen in den Läden zu beobachten. Ich beginne, mit der Idee für jenen Neujahrsvorsatz zu spielen. Was ich sehe, ist fast zu viel für mich. Die Großmutter dort drüben, die versucht, auf ihren alten, müden Füßen durch die eisige Kälte zu kommen. Das kleine Kind, das aussieht, als würde es Secondhandkleidung tragen und als hätte es ein Secondhandleben vor sich. Die Mutter, die in der Schlange an der Kasse langsam ihr Geld zählt und nervös ist, dass es nicht reichen könnte. Selbst jener Mann dort, der aussieht, als hätte er alles, was man mit Geld kaufen kann – doch sein Gesicht ist von Sorgen ganz verhärmt. Während ich über diesen seltsamen Neujahrsvorsatz nachdenke, frage ich mich, wie ich (wenn ich mich überhaupt entscheide, ihn durchzuziehen) mich unter den vielen wohl für nur eine Person entscheiden kann. Wie es aussieht, brauchen alle Gebet. Nicht nur ich und mein kranker Neffe, meine trauernde Mutter und meine Söhne, die in zwei verschiedene Kriegsgebiete unterwegs sind. Alle.

Ich verschiebe den Gedanken einfach auf später und beobachte die Menschen – und dann komme ich zu dem zurück, was mich ganz in Beschlag nimmt. Ich rufe meine Cousine in Georgia an (Gott sei Dank, dass es Mobiltelefone gibt) und weine mit ihr, während ich Lippenstift auflege und versuche, für meine Mutter ein tapferes Gesicht aufzusetzen. Ich genieße die Feuerstelle im Wald und von meinen Söhnen umgeben zu sein. Ich genieße die Geräusche, die von meinen kleinen Enkelinnen zu mir herüberdringen, die mit meiner Nichte spielen. Und, ja, wenn dies kein bittersüßes Weihnachten ist, dann weiß ich auch nicht.

Bisher war es keine Bilderbuchreise, aber ich bekomme trotzdem meinen schönen Moment. Die Jungs öffnen ihre kleinen Geschenke und witzeln herum: »Was, Mama? Bekommen wir wieder eins deiner Bücher?« Dann entdecken sie diese kleinen Fotoalben, die mit Bildern von ihnen gefüllt sind. Babys waren sie einst, diese Männer. Kleine Brüder. Meine Kleinen. Und jetzt stehen sie nebeneinander, blättern eine Seite nach der anderen um, schauen sich gegenseitig über die Schulter, lachen und erzählen Geschichten. »Weißt du noch, als …?«, fragt der eine, und der andere antwortet: »Hey, das war mein Ninja Turtle, hörst du, nicht deiner, und …« Ich schaue auf, sehe, dass mein Mann mich beobachtet, wie ich sie beobachte, und er lächelt. Er weiß, dass genau dieser Augenblick mein größtes Weihnachtsgeschenk ist. Er weiß, dass dies im Moment meine Ewigkeit ist und alle Bilder von einer Zukunft ohne sie verjagt. Alle Neujahrsvorsätze sind tausend Meilen weit weg.

Manchmal ist das Leben schon lustig. Die Art von lustig, die eigentlich sonderbar ist. Manchmal zwingen einen die Umstände, sich genau der Situation zu stellen, die man hartnäckig zu ignorieren versucht. Etwas sagt quasi zu uns: Halt, stopp. Du wirst dich hier nicht rauslavieren oder vergessen, was du eigentlich tun solltest. Also wirst du dich mitten in deinem egoistischen, ausgelasteten und verständlicherweise sehr emotionalen Leben trotzdem auf etwas oder jemanden außer dir selbst konzentrieren. Genau das sagt das Leben zu mir – mit einer einzigen zufälligen Begegnung an einer Skistation am nächsten Tag. Es lässt mir keine Wahl, keine Möglichkeit, noch einmal zu überlegen, und keinen Fluchtweg. Ich werde mich diesem Vorsatz, für Fremde zu beten, mit aller Kraft widmen. Das wird der erste Neujahrsvorsatz meines Lebens sein, den ich durchhalte.

Blaue Schuhe

Gebet bewegt die Hand, die die Welt bewegt.

John Aikman Wallace

Wir haben die Nacht in der Skihütte damit verbracht, Neuigkeiten und verspätete Weihnachtsgeschenke auszutauschen. Wir haben die Geschenke ausgepackt, haben gemeinsam gegessen, und schließlich, endlich, lag jeder in seinem Bett. Doch heute ist der offizielle Skitag, an dem alle tatsächlich die gemütliche Hütte mit dem warmen Kaminofen verlassen und sich hinauswagen, sich Skier an die Füße schnallen und den Berg hinuntersegeln sollten. In meinem Fall wird das wohl nicht passieren. Auf Skiern stelle ich mich … sagen wir einmal, nicht besonders elegant an. Also hat meine Familie – da sie meine körperlichen Fähigkeiten und mein sportliches Talent kennt – mir die überaus wichtige Aufgabe übertragen, den ausersehenen Treffpunkt freizuhalten: einen Tisch in der Kälte. Also sitze ich in der Sonne, dick eingepackt, und lese mein Buch. Gelegentlich werfe ich einen Blick zu den anderen Leuten, nur um ein bisschen Ablenkung zu haben, und dann wende ich mich wieder den gedruckten Worten zu. Ich habe eine wichtige Aufgabe. Ich muss den ganzen Tag immer wieder sagen: »Dieser Tisch ist schon besetzt.« Das macht mir nichts aus, denn wir sind alle zusammen. Und das ist das Wichtigste. Ich werde unseren Tisch in der eisigen Kälte besetzt halten, bis die Kühe nach Hause kommen (oder meine Familie).

Während ich so dasitze und lese, denke ich ab und zu darüber nach, dass heute der 31. Dezember ist. Mir wird bewusst, dass morgen eigentlich der Tag sein sollte, an dem mein großer Vorsatz beginnt. Dieses … was auch immer es ist … dieses Experiment zu menschlicher Güte und geistlicher Erleuchtung. Ich fühle mich immer noch nicht besonders gütig, geistlich oder erleuchtet. Aber verflixt noch eins, der Gedanke geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Wie eine stechwütige Mücke schwirrt er mir im Hirn herum.

Nachdem ich unseren Tisch stundenlang besetzt gehalten habe, werde ich von jemandem abgelöst, der über und über mit Schnee bedeckt ist und ein Snowboard unterm Arm hält: endlich Toilettenpause! Ich lege mein Buch weg und wandere über das Gelände der Skistation. Hier gefällt es mir nicht; es ist sehr voll. Ich mag keine Menschenmassen. Die Restaurants sind bis auf den letzten Platz besetzt, und noch mehr als das. Alle reden zu laut, und das stört mich ebenfalls. Auf der Toilette muss ich ewig warten, bis ich an der Reihe bin, und selbst in der Schlange vor der Toilette grübele ich noch über meinen Neujahrsvorsatz nach.

Endlich bin ich an meinem Ziel angelangt, aber kurz darauf höre ich ein seltsames Geräusch in der Kabine neben mir. Es ist ein dumpfer Schlag, gefolgt vom Aufschrei eines Kindes. Ich erwarte, dass gleich die ruhige und fürsorgliche Stimme einer Mutter sagt: »Oh, tut mir leid, mein Schatz«, oder: »Alles in Ordnung?« Stattdessen höre ich: »Ach, halt die Klappe.« Dann schreit die Frau: »Immer ist was anderes mit dir! Jetzt mach einfach!« Und die kleine Stimme sagt: »Aber ich muss gar nicht!« Ich höre ein anderes Geräusch; es klingt schmerzhaft, und das Kind schreit wieder auf. Jemand von draußen stellt eine Frage, die ich nicht richtig hören kann, und die Frau antwortet: »Alles in Ordnung. Bloß er ist das Problem. Er ist immer ein Problem.« Und neben mir gibt es ein kurzes Gerangel und noch mehr Worte fallen. Ich schaue zu Boden und sehe zwei sehr kleine Füße in blauen Schuhen. Das Kind schreit noch einmal auf und sagt: »Deswegen kann ich dich nicht leiden!«

Glauben Sie mir, wenn ich sage, dass ich als Geschichtenerzählerin eine Meisterin des Dialogs bin. Ich höre ihn und halte ihn fest. Finde die Wahrheit darin. Die Aussage des Kindes ist nicht wütend oder trotzig. Sie ist ein Geständnis, ein Versuch, ein schreckliches Kommunikationsproblem zu überbrücken. Die Frau sagt: »Tja, ich kann dich auch nicht leiden, und ich schäme mich nicht, das zu sagen, und das darf auch jeder hören.«

Es gibt einige Dinge, die erkenne ich auch über den Dialog hinaus. Kindesmisshandlung ist eines davon. Kinder machen Unsinn, werden müde, bekommen einen Klaps. Ich bin keine absolute Gegnerin von einem Klaps aufs Hinterteil. Ich bin in den Südstaaten aufgewachsen, wo ein Klaps auf den Hintern zum Heranwachsen gehörte. Keine Prügel, keine Misshandlung, sondern einfach ein Klaps. Davon habe ich, glaube ich, in meinem ganzen Leben genau zwei erhalten. Doch dieses Kind wird misshandelt. Und ich weiß es.

All dies spielt sich in einer unglaublich kurzen Zeitspanne ab. Ich denke, dass ich gleich aus der Tür komme und sehen werde, wie die Frau die Hände des Kindes unters heiße Wasser hält, sie grob wäscht und das Kind herumschubst. Ich gehe die verschiedenen Möglichkeiten durch. Wie ich an einer Skistation die zuständigen Behörden informieren könnte. Wie ich die Frau aufhalten könnte. Wie ich sie in ein Gespräch verwickeln könnte. Wie ich ihr das Kind aus den Armen reißen und weglaufen könnte.

Ich komme aus der Kabine. Weder am Waschbecken noch sonst irgendwo ist ein kleines Kind mit blauen Schuhen. Ich gehe aus der Toilette, schaue mich in der Menschenmenge um, zwischen den lächelnden Gesichtern im Restaurant, den großen Familien mit Kindern, doch die kleinen Füße sind nirgendwo zu sehen. Ich fühle mich verantwortlich – so als hätte ich dieses Kind, diesen kleinen Fremden, der meinen Weg gekreuzt hat, auf tausenderlei Art und Weise im Stich gelassen. Ich gehe zurück zu unserem Treffpunkt, warte auf meine Familie und denke an das heutige Datum. Daran, dass mein Vorsatz offiziell erst morgen ernst wird. Und ich trage den kleinen Jungen mit den blauen Schuhen den ganzen Tag über in meinem Herzen mit mir herum wie in einem Schatzkästchen. Ich halte die Augen offen und suche. Selbst später, als wir den Skihang verlassen und zum Essen den Berg hinuntergehen, suche ich nach blauen Schuhen.

Später am Abend erzähle ich meinem Mann unter Tränen die ganze Geschichte. Dass ich etwas hätte tun sollen, um den kleinen Jungen zu retten.

Mein Mann sagt: »Sieht so aus, als hättest du deinen Fremden für heute gefunden.«

»Es ist noch nicht Neujahr. Noch sind die Neujahrsvorsätze nicht dran«, widerspreche ich ihm. Doch natürlich habe ich bereits für das Kind gebetet.

»Keine Sorge«, setzt mein Mann hinzu. »Diese Frau ist zu laut und zu aufbrausend. Irgendwo, wo man nicht in der Menschenmenge verschwinden kann, wird sie auffallen. Jemand wird sie anzeigen.«

Natürlich hat er damit recht, aber ich denke an die kleine zitternde Stimme und frage mich, was das Kind in diesem Moment durchmacht. Und ich bete inständig.

Dann denke ich an die Kraft des Gebetes – was wir darüber glauben oder nicht glauben. Wenn wir wirklich glauben, dass Gebete den Verlauf eines Lebens beeinflussen, wo ist dann unser Glaube, wenn es darauf ankommt? Wo ist mein Glaube? Ich bin eine Frau, die ein Kind tatsächlich dem entreißen würde, der es misshandelt, und sich erst später Gedanken über die Konsequenzen machen würde. Aber bin ich auch eine Frau, die von Herzen beten und glauben kann, dass die Hilfe schon unterwegs ist? Dass sie rasch und gewaltig kommt? So zu glauben erscheint mir als eine viel größere Herausforderung, als sofort und unmittelbar etwas praktisch zu unternehmen.

Ich war nicht auf eine Bestätigung aus, dass mein Vorsatz richtig und passend war, aber ich bekam sie trotzdem. Die Zeiger der Uhr ticken ins neue Jahr. Ich warte und sehe den Countdown auf dem Times Square mit einem neuen Bewusstsein. Meine Söhne treten in eins der gefährlichsten Jahre ihres Lebens, eins, in dem mein Leben mehr als ausgefüllt mit Gedanken an sie sein wird – und doch kreuzen gleichzeitig Fremde meinen Weg, die das Einfachste brauchen, das ich zu bieten habe, fast so, als hinge ihr Leben davon ab. Und vielleicht ist dies bei einigen von ihnen tatsächlich der Fall. Und für ein paar Stunden, während ein Jahr ins andere übergeht, ist das Wichtigste in meinem Leben weder ich noch meine Lieben. Es ist das inständige Gebet für das Leben eines kleinen Fremden.

Der Busbahnhof

Er wird die Gebete der Hilflosen erhören und sich ihren Bitten nicht verschließen.

Psalm 102,18

Der Urlaub war lang. Gefühlt sind wir schon seit Ewigkeiten unterwegs. Zuerst unser großes Familientreffen zum Jahreswechsel, dicht gefolgt von Tante Kates Beerdigung. Irgendwie habe ich es geschafft, Menschen an einer Tankstelle, in einem Motel oder in einem Restaurant zu begegnen und zu wissen, dass ein stilles Gebet ihnen in ihrer Situation helfen könnte.

Ein Höhepunkt unseres Urlaubs war für mich, dass meine Schwiegermutter zu Besuch kam. Sie ist mehr als nur die Mutter meines Mannes; sie ist auch meine Freundin, und sie bei uns zu haben, ist wirklich eine Freude. Aber jetzt hat sie beschlossen, den Heimweg anzutreten, und ist hartnäckig entschlossen, mit dem Bus zu fahren. »Ich kann dabei lesen«, erklärt sie mir, »und stricken. Und es gibt immer interessante Leute zu beobachten.« Ähm … ja, bestimmt. Ich mache mir einigermaßen Sorgen um sie und denke, dass dies wohl das letzte Mal ist, dass wir einlenken und ihren Wünschen nachgeben.

Wir kommen am Busbahnhof an, wo es von Menschen nur so wimmelt. Sie wirken schon müde, bevor sie ihre Reise überhaupt angetreten haben. Ich beobachte das Gedränge, während wir am Fahrkartenschalter in der Schlange stehen und Mutter Nancy zum richtigen Bus manövrieren.

Ich brauche einen Fremden, denke ich wie ein Jäger, der sich durch ein Meer von Körpern, Taschen und abgenutzten Koffern bewegt. Und irgendwie bin ich ja auch auf der Pirsch – nach Menschen. Ich suche im Geist, denke: sicher hier – irgendjemand. Eine ältere Frau mit dunklem Haar taucht auf und spricht einige Male mit uns und der Dame vor uns. Sie muss es sein, denn wenn Sie sie sehen könnten, wüssten Sie, warum. Garantiert! Ich würde darauf wetten, dass sie es ist! Sie sieht aus, als könnte sie wirklich Gebet brauchen. Aber ist das mein Auftrag? Soll ich einfach für jeden beten, der mir über den Weg läuft und aussieht, als könnte er es gebrauchen? Im großen Ganzen betrachtet vielleicht schon, aber für mich geht es um meinen Entschluss, und ich versuche immer noch, ihn richtig zu verstehen. Ich könnte für praktisch jeden Fremden beten, der mir über den Weg läuft und so aussieht, als ob er oder sie Gebet brauchen könnte, und ich hätte ein sehr ausgefülltes Gebetsleben. Aber das hier ist etwas anderes. Ich habe den Eindruck, ich soll jeden Tag für eine besondere, bestimmte Person sensibel sein. Diese eine Person zu finden, ist wie die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen. Ganz besonders in diesem Moment am Busbahnhof von Nashville. Aber dann geschehen zwei Dinge gleichzeitig.

Eine Frau, die am anderen Schalter auf ihre Fahrkarte wartet, berührt mein Herz. Sie sieht nicht besonders bedürftig aus, aber ich weiß einfach, dass sie meine Fremde ist. Bisher habe ich diese Sache mit dem Neujahrsentschluss einfach akzeptiert und ausgeführt. Still und für mich. Aber in diesem Moment habe ich den Eindruck, dass ich nicht nur für sie beten, sondern ihr auch sagen soll, dass ich für sie bete.

Na super. Ganz super. Ich will Ihnen ein wenig von mir erzählen, damit Sie verstehen können, was diese Aufforderung bei mir auslöst.

Ich bin so ganz und gar keine Evangelistin. Nicht, wenn es um meinen Glauben geht. Ich stelle mich gern an die Ecke und predige, dass die Leute lesen sollen oder einen Bibliotheksausweis brauchen, aber wenn es um Gott geht, bin ich meistens ziemlich schweigsam. Lassen Sie es mich so sagen: Wenn Ihr Seelenheil davon abhinge, dass ich Ihnen auf der Straße Zeugnis von mei nem Glauben gebe, stünden Ihre Chancen nicht besonders gut. Manche Menschen haben diese Gabe, aber nicht ich. Ich kann mit Ihnen über das Wetter reden, darüber, was Sie auf Ihrem iPod haben, über die neueste Fernsehserie oder die Nachrichten von heute, aber nicht über Jesus. Das liegt nicht daran, dass ich nicht an Jesus glaube, denn – nur fürs Protokoll und weil wir gerade dabei sind: Ich glaube an ihn. Aber ich denke auch, dass das meine Privatsache ist und Sie Ihren Weg zu Gott schon zu gegebener Zeit finden werden. Damit will ich nichts zu tun haben und auch keine Verantwortung für Sie übernehmen. Also, damit es ganz klar ist: Mit Menschen darüber zu reden, dass ich für sie bete, dreht mir mehr oder weniger den Magen um und jagt mir eine Heidenangst ein. Trotz alledem hole ich tief Luft und bitte meinen Mann, einen Moment auf mich zu warten, weil ich etwas zu erledigen habe. Dann kehre ich zu dem Schalter zurück, wo die Frau immer noch auf ihre Fahrkarte wartet.

Ich gehe langsam auf sie zu, weil ich sie nicht erschrecken will. Mir ist sehr wohl bewusst, dass es etwas seltsam wirken könnte, in der Öffentlichkeit auf Menschen zuzugehen und zu ihnen zu sagen: »Entschuldigen Sie bitte – heute sind Sie mein Fremder/meine Fremde.« Mir ist schon klar, dass man mich als verrückt abstempeln könnte. Ich räuspere mich und spreche die Frau leise an, damit die Dame am Schalter uns nicht hören kann. Ich erzähle ihr von meinem Vorsatz, erkläre ihr, dass sie heute meine Fremde ist und dass ich den ganzen Tag an sie denken und besonders für sie beten werde. Dann passiert etwas ganz Seltsames: Sie schaut mich mit einem Gesichtsausdruck an, den ich nur als »Staunen« bezeichnen kann. Dann fällt sie mir um den Hals. »Wissen Sie, was ich heute Morgen zu Gott gesagt habe? Wissen Sie das? Gerade heute habe ich gebetet und für andere Leute gebetet, aber dann habe ich aufgehört und gefragt: ›Gott, gibt es auf dieser ganzen weiten Welt jemanden, der für mich betet?‹«

Was sagt man dazu! »Anscheinend bin ich das«, sage ich und umarme sie auch. »Ich wünsche Ihnen eine gute Heimreise.«

»Ja, die werde ich jetzt haben!« Sie hat ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht und ich verstehe, warum. Gott hatte ihre Frage beantwortet – und mich offenbar dazu gebraucht.

Ich kehre zu meiner Schwiegermutter zurück, sehe sie sicher hinter dem Busfahrer sitzen und schaue mit Tränen in den Augen zu, wie der Bus davonfährt. Ich bin in diesem Moment etwas sentimental – ihretwegen und wegen der anderen Frau, die in die entgegengesetzte Richtung nach Kentucky fährt. Mein Mann fragt mich: »Wo warst du denn?« Ich erzähle ihm die ganze Geschichte. Er ist so erstaunt wie ich und sagt: »Das solltest du aufschreiben.«

Dieser Vorfall am Busbahnhof ist der ausschlaggebende Hinweis, der mir zeigt, dass ich hier nicht nur ein soziales Experiment betreibe. Ich versuche nicht einfach nur, aus dem Sumpf von vergeudeten Vorsätzen herauszukommen, die nie in die Tat umgesetzt wurden. Ich habe den Eindruck, dass ich hier an etwas sehr Konkretem und Realem beteiligt bin und erkenne, dass es einen Plan gibt, der über mein persönliches Leben hinausgeht. Es bedeutet auch, dass Dinge zum Ziel kommen. Heute empfinde ich ein warmes Gefühl demütiger Zufriedenheit. Meine Gebete sind einer Fremden etwas wert. Und jetzt ist diese Fremde mir etwas wert.

Partygebete

Gebet ist das Atemholen der Seele.

John Henry Newman

Der Tag in Atlanta war gut ausgefüllt. Ich war den ganzen Tag über mit Buchterminen und der Produktion von Radiosendungen beschäftigt, habe bei Podiumsdiskussionen gesprochen und andere Autoren interviewt. Doch bei allen Signierstunden, Treffen mit Lesern und Antworten auf Fragen zum Veröffentlichen von Büchern und zur kreativen Muse habe ich trotzdem nicht vergessen, dass ich für jemanden beten soll. Ich habe die Augen offen gehalten und einen offenen Geist bewahrt; doch selbst wenn ich jemandem begegnet wäre, bei dem ich das Gefühl gehabt hätte, ich solle mit ihm sprechen, wäre es schwierig gewesen, einen Moment für ein Gespräch unter vier Augen zu finden. Ich glaube, ich war keine fünf Minuten allein. Jetzt ist es spät am Abend und mein Mann begleitet mich zu einer letzten Cocktailparty für alle Autoren in einer örtlichen Kunstgalerie.

Nach diesem langen Tag mit vielen Gesprächen und sozialen Kontakten versuche ich dennoch, sensibel für jenes besondere Gesicht in der Masse zu bleiben – aber endlich entspanne ich mich doch. Trotzdem gibt es noch eine Menge befreundeter Autoren, mit denen ich sprechen und Neuigkeiten austauschen will. Buchfestivals sind so ähnlich wie Klassentreffen für Autoren, die Freundschaften geschlossen haben, denn wir sehen uns größtenteils nur, wenn wir auf Tour sind. Partys wie diese geben uns eine Gelegenheit, miteinander ein Glas Wein zu trinken und darüber zu reden, wie das neueste Buchprojekt läuft und wie es den Kindern geht.

Nach und nach vergesse ich, dass aus dem langen Tag ein später Abend geworden ist und ich immer noch nicht für einen Fremden gebetet habe. Doch dann komme ich an einer Frau in der Menschenmenge vorbei, und da ist sie – einfach so. Ihr Gesicht habe ich schon irgendwo gesehen. Sie kennt mich als Autorin. Ich weiß, dass sie heute bei meinem Podiumsgespräch im Publikum saß, aber ich kenne sie nicht. Ich bin auf dem Weg nach oben, um die Kunstausstellung zu besichtigen, und denke: Ich spreche auf dem Rückweg mit ihr. Und dann habe ich es ebenso schnell wieder vergessen. Als ich wieder nach unten komme, sehe ich sie nicht mehr.

Mein Mann und ich unterhalten uns mit Autoren, essen zu Abend, wandern durch den Raum, machen Small Talk und erzählen von unseren letzten Reisen. Schließlich finden wir den Weg zur Weinbar und stellen uns in die Schlange. Die Frau vor mir dreht sich zu mir um – und da ist sie wieder. Dieses Gesicht, diese Frau, für die ich beten sollte. Plötzlich wird mir klar, dass ich mit ihr reden muss und nehme sie beiseite, um ihr zu erklären, dass sie meine »Fremde des Tages« ist.

»Wie seltsam«, sagt sie, doch sie sagt es mit einem Leuchten in den Augen. »Das ist richtig bizarr. Wissen Sie, was heute für ein Tag ist?« Sie lächelt mich an, doch in dem Lächeln liegt auch Traurigkeit.

Natürlich kenne ich die Bedeutung des Tages nicht – außer, dass heute dieses große Buchfestival ist. Ich schüttele den Kopf.

»Heute ist der vierundvierzigste Geburtstag meiner Tochter, die vor Kurzem gestorben ist. Das ist der erste Geburtstag, an dem sie nicht mehr da ist.«

Wirklich bizarr. Wir gehen noch ein Stück weiter weg von der umdrängten Bar und in eine kleine Nische, wo es etwas ruhiger ist, wo wir uns eine Weile unterhalten können. Die Cocktailgespräche gehen hinter uns und um uns weiter. Neuigkeiten aus der Verlagswelt, neue Buchtitel, Mitteilungen von kürzlichen Ereignissen. Doch jetzt gerade bin ich auf die Frau vor mir konzentriert und wir sprechen von Frau zu Frau, von Mutter zu Mutter. Mein Mann ist in eine andere Richtung geschlendert. Inzwischen ist er daran gewöhnt, dass ich beiseitetrete und mit Fremden flüstere. Die Geräusche der Cocktailparty umgeben uns immer noch, aber wir sind an unserem Platz wie abgeschirmt. Marsha erzählt mir von ihrer Tochter und deren Leben. Von Zeichen und Wundern seit ihrem Tod. Kleine Dinge, die ihr viel bedeuten und ihr geholfen haben, diese schwere Zeit zu überstehen.

Eltern sollten nie ihre Kinder begraben müssen. Am liebsten würde ich Gott sagen, dass er ein Gesetz daraus machen soll. Aber ich bin nicht der Gesetzgeber.

»Sie haben eine Gabe«, sagt sie mir.

»Ach, ich weiß nicht. Ich versuche nur, meinen Vorsatz umzusetzen.«

»Nein, es ist eine Gabe. Und ich kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und meine anderen Töchter anzurufen, ihre kleinen Schwestern, und ihnen davon zu erzählen. Sie machen sich solche Sorgen um mich, dass sie mich schon den ganzen Tag lang anrufen, um nachzufragen, ob es mir gut geht.«

Sie schaut mich an, und ihr Lächeln sagt mir, dass alles für sie wieder gut werden wird. Dass der morgige Tag etwas freundlicher aussehen und etwas weniger schmerzlich sein wird. Ich bin froh, sie gesehen und wiedergesehen zu haben. Ich freue mich, dass ich mich auf diesen Neujahrsvorsatz eingelassen und trotz aller Vorbehalte angefangen habe, den betreffenden Personen zu erzählen, dass sie mir aus einem bestimmten Grund aufgefallen sind und ich für sie beten werde. Ich freue mich darüber, was diese Nachricht für Marshas andere Töchter bedeuten wird. Es stärkt meinen Glauben an etwas, das größer ist als ich und meine täglichen Probleme. Ich habe keine besondere Gabe. Wir alle haben die gleiche Gabe, die gleiche Gelegenheit. Was kostet es uns denn tatsächlich, innezuhalten, um Ausschau nach einer anderen Person zu halten, die unser kleines Universum durchquert und vielleicht ein Wort der Ermutigung braucht?

Der Geburtstag einer verstorbenen Tochter? Das Wissen, dass ein Sohn überlebt hat und in Sicherheit ist? Unsere Wege kreuzen sich in diesem zauberhaften, wunderbaren, bittersüßen Leben. Wenn wir nur wüssten, wie wichtig wir füreinander sind. Selbst – oder ganz besonders – als Fremde.

Eine Quelle von Gebeten

Wir begreifen den Wert des Wassers erst, wenn der Brunnen ausgetrocknet ist.

Thomas Fuller

Er war einfach ein Mann hinten auf einem Pritschenwagen. Und wenn ich sage »hinten«, meine ich nicht den Rücksitz in der Kabine, sondern die Pritsche. Ich fuhr gerade an dem Wagen vorbei, als sich unsere Blicke trafen. Ich wusste es – mein Fremder. Ein weiterer Fremder in einer inzwischen endlosen Reihe. An manchen Tagen frage ich mich, wenn ich in den Himmel komme und es dort ein großes, breites Tor und ewige Landschaften gibt (fürs Protokoll: daran glaube ich wirklich), ob sie dort sein werden. Wird es eine lange Reihe von unbekannten Seelen geben, Menschen, für die ich im Vorbeigehen gebetet habe? Wenn ja, werden wir vielleicht etwas mehr Zeit füreinander haben als einige wenige geflüsterte Worte.

Doch im Moment sehe ich diesen jungen Mann auf einem Pritschenwagen. Ich lächele und winke ihm zu. Kein auffälliges Winken, wohlgemerkt; kein Paradewinken. Einfach eine erhobene Hand, die von ganz allein Frieden zu sagen scheint. Er lächelt zurück, hebt die Hand, und in dem Moment, als sich unsere Blicke treffen, gibt es eine menschliche Verbindung, die sich allen logischen Gründen oder Grenzen entzieht. Sie löst eine Welle von Mitgefühl aus, ein Gefühl der Zuwendung, das ich normalerweise nicht für jeden beliebigen Menschen an jedem beliebigen Tag empfinde. Und in diesem Moment liegt mir dieser junge Mann auf dem Pritschenwagen sehr am Herzen. Mir ist wichtig, dass er Arbeit hat und eine Zukunft und dass er sein Lebensziel erreicht. Mir ist die Familie wichtig, die ihm wichtig ist. Einen Augenblick lang ist er in jedem Sinn des Wortes mein Bruder.

Ich halte an einer roten Ampel an; der Pritschenwagen ebenfalls. Der junge Mann ist links von mir, nur ein kleines Stück vor mir, und er schaut mich noch immer an. Ich nehme wieder Blickkontakt zu ihm auf, nicke ihm zu und er nickt zurück. Dann fährt der Wagen los und biegt nach links ab, und er hebt noch einmal die Hand zum Abschied. Ich winke ihm ebenfalls zu, und dann ist er verschwunden. Doch das Tor, das sich durch diese Begegnung geöffnet hat, schließt sich nicht so leicht. Die Quelle von Emotionen, die Leidenschaft des Mitgefühls, wurde geöffnet, und mit Tränen in den Augen und allem, was meine Seele hergibt, spreche ich einen Segen für ihn. Und bevor es mir überhaupt bewusst wird, bete ich für Fremde die ganze Straße hinauf und hinunter. Für den alten Mann an der Ecke und die Frau, die diese schwere Last trägt, und die gebeutelt wirkende Seele an der Bushaltestelle. Ich denke: Das könnte ich sein – gebrochen, gebeutelt und verloren – statt das Leben zu führen, das ich führe. Und ich bete.

Als ich in Nordflorida aufwuchs, hatten meine Großeltern das, was man die kleinste Farm der Welt nennen könnte. Nur ein paar Hektar groß, aber mit Schweinen, Hühnern, Honigbienen und Feldern. Eines der wichtigsten Dinge auf der Farm war die Pumpe, die das Wasser aus der Erde heraufbrachte. Schon von klein auf lernten wir: Eine Pumpe muss man immer anfüllen, und man darf sie nie leerlaufen lassen. Niemals. Also hinterließ der, der die Pumpe gerade benutzt hatte, immer einen Becher Wasser für den Nächsten.

Aus gutem Grund tauchen Pumpen von jeher in Geschichten und Allegorien auf. Wenn unsere Pumpen leerlaufen – als Autoren, Mütter, Ehefrauen, Ehemänner, Väter oder was auch immer, sei es persönlich oder beruflich –, ist es sehr schwierig, das Wasser wieder zuverlässig zum Fließen zu bekommen. Das Gleiche lässt sich über das Gebet sagen. Allerdings hätte ich erwartet, dass, nachdem ich seit Beginn meiner Gebetsaktion für so viele Menschen gebetet hatte, meine Pumpe gut »angefüllt« war. Sollte man meinen. Doch das unerwartete Auftauchen dieses jungen Mannes, das Mitgefühl meines Gebetes für sein Leben, hat eine Schleuse des Gebetes geöffnet. Und ich frage mich, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich so leben würde