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JAN BEINSSEN

 

HAUSERS BRUDER

PAUL FLEMMINGS DRITTER FALL

 

Kriminalroman

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (3. Auflage 2009)

© 2007 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Susanne Bartel

Umschlaggestaltung: Silke Klemt, www.silkeklemt.de

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN: 978-3-86913-349-2

 

Für Felix

 

 

Will man Kaspars wahre Identität herausfinden,

so muss man ihn unter den Toten suchen.

 

Anselm Ritter von Feuerbach (1775–1833)

 

 

1

Irgendwie taten sie ihm leid, wie sie da so stumpfsinnig ihre Bahnen zogen. Dicht gedrängt, Leib an Leib. Ab und zu tauchten ihre Köpfe auf, so dass er die Augen sehen konnte, die nur dumpfe Gleichgültigkeit auszudrücken schienen.

Sie haben keine Ahnung von dem, was auf sie zukommt, dachte Paul Flemming, und das ist auch gut so. Dann löste er seinen Blick endlich von den Fischen im brusthohen Bassin.

Wegen der Karpfenernte war er an diesem herrlichen Spätsommertag extra früh aufgestanden, was für Paul an einem Samstag alles andere als üblich war. Nun stand er schon seit gut zwei Stunden am Valznerweiher, gähnte und beobachtete das Spektakel, das die Fischbauern vor einer Hand voll Journalisten, einigen lokalen Politikern und vielen neugierigen Besuchern veranstalteten.

Der weitläufige Teich war abgelassen worden. Das von Bäumen umsäumte, flache Becken breitete sich jetzt als schwarze, glitschige Schlicklandschaft vor ihnen aus. Die Fischbauern und eine Menge freiwilliger Erntehelfer wateten in kniehohen Stiefeln und Anglerhosen durch das Brackwasser. Bewehrt mit großmaschigen Käschern fischten sie die zappelnden Karpfen aus dem Morast.

Die Fische landeten allesamt in dem großen Bassin, das Paul gerade eben noch so fasziniert bestaunt hatte. In dem Frischwasser blieben die Karpfen so lange, bis sie verkauft wurden. Und einige, dachte Paul, während seine Nase einen feinen Küchendunst aus der nahen Gaststätte roch, würden in Bierteig gebacken sogar auf den Tellern der heutigen Zuschauer landen.

Sein Mitleid für die Fische verflog schnell, als er sich den erdig markanten Geschmack des weißen Fleisches unter einer knusprigen Panade vergegenwärtigte. Und bei dem Gedanken an frittierte Flossen, die sich knabbern ließen wie Kartoffelchips, lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

Paul schlenderte betont langsam zu einem provisorisch aufgebauten Podium auf der anderen Seite des Fischbeckens hinüber. Dort trat gerade ein hinlänglich bekannter Landtagsabgeordneter gemeinsam mit dem Fischereiverbandsvorsitzenden vors Mikrophon. Paul hatte am Morgen schon genug Fotos gemacht, nun würde er nur noch den Ansprachen lauschen und einige Hintergrundinformationen für seine Bildtexte notieren. Damit wäre sein Job hier erledigt, und er konnte sich voll und ganz dem Wochenende widmen.

Der Verbandsvorsitzende begann: »Fast wäre es in diesem Sommer den Karpfen zu warm geworden. Der Klimawandel lässt grüßen!«, sagte er gestelzt. »Weil die Temperaturen im Juni und Juli so außergewöhnlich hoch waren, wurden unsere Teichwirte schon ziemlich nervös. Karpfen mögen eine Wassertemperatur von über fünfundzwanzig Grad nämlich überhaupt nicht.«

Der Fischexperte wurde immer leiser und war nun trotz der Verstärkeranlage nicht mehr gut zu hören. Paul trat also noch näher an das Podium heran. Im Bassin daneben wimmelte es von immer mehr stattlichen, grüngrau schimmernden Karpfen.

»Aber dann kam Gott sei Dank der Regen«, die Stimme des Verbandsvorsitzenden hob sich wieder. »Und die Qualität der Fische kann sich wahrlich sehen lassen: Fünf bis sechs Prozent Fettgehalt – das ist hervorragend.« Einige wenige Zuhörer klatschten Beifall.

Anschließend erzählte der Karpfenfachmann noch etwas von der dreihundertjährigen Erzeugertradition, von einer Produktionsmenge von jährlich zweitausendvierhundert Tonnen Karpfenfleisch allein aus Mittelfranken und wollte nach Pauls Erwartung gerade das Wort an den bereits ungeduldig auf seinen Füßen wippenden Landtagsabgeordneten übergeben, als ein außergewöhnliches Geräusch ihn abrupt innehalten ließ.

Es war ein unheilvolles Knirschen, das sich schnell in ein ohrenbetäubendes Zischen verwandelte. Blitzschnell richtete Paul seinen Blick auf die dünnwandige Plastikhülle des Fischbeckens. Dann bemerkte er zu seinen Füßen die ersten Rinnsale.

Für jeden Fluchtversuch war es damit schon zu spät! Paul schaffte es gerade noch, seine teure Nikon in die Höhe zu reißen, als im selben Augenblick die Wand des Bassins nachgab und sich die sprudelnden Fluten auf das völlig überraschte Publikum ergossen.

Dröhnend donnerte die Gischt Kubikmeter um Kubikmeter aus dem Becken. Das Wasser schoss durch Pauls Beine hindurch und um sie herum und zerrte bedrohlich an seiner Hose. Über das Rauschen hatte sich das hysterische Geschrei einiger Damen in feinen Kostümen gelegt.

Während Paul verzweifelt versuchte, das Gleichgewicht zu halten und damit auch seinen Fotoapparat und die Digitalaufnahmen des Morgens zu retten, sah er, wie es den Landtagsabgeordneten und den Fischereiexperten erwischte: Eine hüfthohe Welle, aus der zuhauf wild schlagende Schwanzflossen auftauchten, riss die beiden Würdenträger mitsamt ihrem Stehpult zu Boden. Die Anzüge sind für immer ruiniert, dachte Paul und grinste schief.

Die fischreiche Flut ebbte so schnell wieder ab, wie sie gekommen war. Paul nutzte die allgemeine Konfusion, um die skurrile Szenerie mit seiner Kamera festzuhalten. Er fotografierte entsetzte Ehrengäste, zu deren Füßen Dutzende fette Karpfen zappelten, und Kinder, die den gestrandeten Fischen lachend an den Flossen zupften. Dazwischen rannten aufgeregt die Erntehelfer hin und her, die die Fische mit bloßen Händen einzufangen versuchten, um sie in kleinere Nebenbecken und eilig herbeigeschaffte Eimer zu setzen. Trotz des anfänglichen Schreckens, seiner nassen Hosen und aufgeweichten Schuhe begann der Vorfall Paul zu amüsieren.

Seine gute Stimmung verflog jedoch sofort, als er im Blickfeld seines Suchers jemanden erkannte, der ihm hier und jetzt ganz und gar nicht in den Kram passte.

Paul setzte seine Kamera ab, als die hagere Gestalt auf ihn zusteuerte: Blohfeld verweilte bei der Betrachtung des durchnässten Pauls und lächelte dann schadenfroh. Obwohl ein sonnenverwöhnter Sommer hinter ihnen lag, war das Gesicht des Polizeireporters fahl geblieben und damit fast so grau wie seine viel zu langen Haare.

Paul nahm Blohfelds unerwartetes Auftreten skeptisch zur Kenntnis – jedesmal, wenn er es mit dem Reporter zu tun bekam, wurde er in Angelegenheiten verstrickt, die ihm bisher nichts als Unannehmlichkeiten beschert hatten. Mit seinem unweigerlich näherrückenden vierzigsten Geburtstag sehnte sich Paul nach einem geordneten und vor allem ruhigeren Lebenswandel. Blohfeld jedoch verkörperte das genaue Gegenteil dessen – und sein alarmierend süffisantes Lächeln ließ ganz sicher nichts Gutes vermuten.

Verschmitzt blickte Blohfeld ihn aus seinen kleinen, aber intelligenten Augen an. Dann deutete er auf Pauls durchnässte Kleidung: »Das müssen Sie aber in die Reinigung geben«, er hielt sich demonstrativ die schmale Himmelfahrtsnase zu. »Den Fischgeruch bekommen Sie sonst nie wieder heraus.«

Paul rang sich einen neutralen bis mäßig freundlichen Gesichtsausdruck ab. »Es hätte mir ja klar sein müssen, dass Sie hier aufkreuzen: Kein Unglück, ohne dass der Starreporter unseres geschätzten Boulevardblatts nicht sofort zur Stelle wäre.«

»Da überschätzen Sie meine Reaktionsfähigkeit aber ein wenig«, winkte Blohfeld ab und kickte einen inzwischen leblos am Boden liegenden Fisch mit der Fußspitze beiseite. »Sie waren nicht zuhause, und Ihr Nachbar Jan-Patrick war so freundlich, mich hierher zu schicken.«

»Aber was wollen Sie von mir?«, wollte Paul wissen.

Anstatt zu antworten, deutete Blohfeld mit einer ausholenden Geste auf das Chaos um sie herum. »Verraten Sie mir erst mal, warum Sie neuerdings Fische anstatt nackter Frauen fotografieren?«

Paul schaute sich peinlich berührt um. »Blohfeld, lassen Sie Ihre Anspielungen! Sie wissen ganz genau, dass ich mir neben meinen Atelieraufnahmen etwas dazuverdienen muss.« Kleinlaut fügte er hinzu: »Und deshalb fotografiere ich auch für den Fischereifachverband.«

Der Reporter nickte mit wissendem Blick: »Genau wegen Ihrer Geldsorgen bin ich gekommen. Ich möchte, dass Sie einen Auftrag für mich erledigen. Einen anständigen.«

»Und warum haben Sie dann nicht einfach angerufen, wie es sonst Ihre Art ist?«, fragte Paul mit immer stärker aufkeimendem Misstrauen.

»Weil ich wusste, dass Sie den Auftrag dann sofort abgelehnt hätten.« Blohfeld grinste ihn süffisant an.

Paul stutzte. »Wenn Sie das bereits wussten, verstehe ich überhaupt nicht, weshalb Sie sich an einem Samstagmorgen extra hierher an den Valznerweiher bemüht haben.«

Blohfeld wählte einen sachlichen Tonfall: »Was bekommen Sie für Ihre Fischfotos? Der Stundenlohn dürfte wohl kaum über dem eines Zeitungsausträgers liegen – wenn Ihnen die Bilder nach diesem Fiasko hier überhaupt noch jemand abnimmt.« Blohfelds Stirn zog sich in Falten. »Sie führen einen extrem extravaganten Lebensstil, Flemming: Dieses Loft am Weinmarkt, die vielen Abende in teuren Restaurants und Bars, die kostspieligen Nachrüstungen Ihrer Studioausstattung – all das will doch bezahlt werden. Daher verstehe ich es nicht, warum Sie sich in letzter Zeit so beharrlich gegen meine Aufträge sträuben. Wir bezahlen gut und pünktlich, wie Sie wissen.«

Paul mied den Blickkontakt mit Blohfeld, um nicht in Versuchung zu geraten, ihm über den Mund zu fahren.

»Ich sag es Ihnen: Weil ich durch Sie und Ihre Aufträge permanent in Schwierigkeiten gerate. Denken Sie nur an die Sache mit diesem Dürer-Bild oder den Fall mit den Bratwürsten.«

»Das ist doch alles Schnee von gestern«, tat Blohfeld das Gesagte ab. »Zugegeben: Das waren beides harte Nüsse. Aber letztendlich haben wir sie geknackt, und Sie konnten Ihre Exklusivfotos bundesweit mit einem satten Gewinn an den Mann bringen.«

Paul sah den Reporter ernst an, forschte aber ergebnislos in dessen Mimik und senkte dann abermals den Blick. Zu seinen Füßen lag ein besonders prächtiges Exemplar eines Spiegelkarpfens, der gerade sein Leben mit langsamem Öffnen und Schließen seines Mauls aushauchte. Paul sah in die erloschenen Augen des Fisches und sagte: »Ich habe wirklich genug von Abenteuern dieser Art. Ich schätze Ihr Honorar – aber mehr noch schätze ich mein ruhiges Leben und meine Gesundheit. Sie als Polizeireporter mögen es gewohnt sein, auf Tuchfühlung mit Verbrechern zu gehen, aber ich ziehe es vor, mein Geld auf weniger lebensbedrohliche Art zu verdienen.«

»Warum halten Sie sich dann in der Nähe von gemeingefährlichen Karpfenbecken auf und wählen nicht gleich einen Bürojob mit Stempeluhr und Ärmelschonern?«, fragte Blohfeld mit beißendem Spott. »Meine Güte, Flemming, was sind Sie doch für ein bodenständiger Spießer geworden!«

»Ein bisschen mehr Bodenständigkeit würde mir tatsächlich gut tun – und Ihnen übrigens auch«, gab Paul zurück.

Verblüffenderweise nahm Blohfelds Ausdruck sanfte Züge an: »Wenn das so ist, ist mein neuer Auftrag genau das Richtige für Sie: Staubtrocken, ein wenig altbacken sogar – und garantiert ungefährlich. Denn das Verbrechen, um das es dieses Mal geht, liegt schon Jahrhunderte zurück. Das Problem dabei ist nur, dass ich einen exzellenten Fotografen wie Sie brauche, um der faden Geschichte wenigstens ein paar inspirierende Bilder abzutrotzen.«

Paul schmunzelte über Blohfelds durchschaubare Überzeugungsversuche. Die alte Methode: mit Zuckerbrot und Peitsche, nur in umgekehrter Reihenfolge. »Um wen oder was geht es denn?«, erkundigte sich Paul, nun doch neugierig.

»Na also«, sagte Blohfeld mit gewinnendem Lächeln. »Es geht um Kaspar Hauser.«

Dieser Name ließ Paul mit gewisser Ernüchterung aufatmen. Hauser gehörte zu Franken wie die Bratwurst, das Bier und der Wein. Jedes Schulkind kannte die tragische Geschichte des ebenso verirrten wie verwirrten Waisenknaben. Paul war sie schon in seinen frühesten Jahren eingetrichtert worden. Das Thema war ebenso bekannt wie ausgeschlachtet. Doch Paul wusste auch, dass Zeitungen, die den historischen Fall Hauser aufgriffen, erstaunlicherweise noch immer jedes Mal weggingen wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln.

»Was wissen Sie über Hauser?«, fragte Blohfeld und dirigierte Paul an der Schulter sanft aus dem Karpfenfriedhof in Richtung des nahen Parkplatzes.

»Das, was halt jeder über ihn weiß: An einem Pfingstmontag, irgendwann um 1800, ...«

»1828«, korrigierte ihn Blohfeld.

»Meinetwegen auch das. Auf jeden Fall tauchte der jugendliche Kaspar Hauser zu diesem Zeitpunkt mitten in Nürnberg auf. Sein Entwicklungsstadium war das eines Kleinkindes. Nachdem er mehrmals hin- und hergereicht worden war, landete er schließlich in Ansbach, wo er einige Jahre später im Hofgarten ermordet wurde. Angeblich war Hauser ein unerwünschter Spross aus Adelskreisen und damit Opfer eines höfischen Intrigenspiels geworden. Gentechnische Analysen seiner blutverschmierten Kleidung haben das jedoch nie überzeugend belegen können.«

»Nicht schlecht für den Anfang«, sagte Blohfeld gönnerhaft. »Aber Hausers Geschichte – so abgedroschen sie auch erscheinen mag – hat weitaus mehr zu bieten. Was wissen Sie zum Beispiel über die anderen Attentate, die in Nürnberg auf Hauser verübt wurden? Oder von den verschwundenen Dokumenten, mit denen seine adlige Abstammung angeblich nachzuweisen gewesen wäre?«

Paul zuckte entnervt mit den Schultern. Inzwischen hatten sie den Parkplatz erreicht. Blohfeld hatte seinen schweren Geländewagen unmittelbar neben Pauls Renault abgestellt. Aus seiner Jackett-Tasche zog er einen Zettel. »Ich habe hier die Adresse eines gewissen Herrn Henlein. Franz Henlein. Er wohnt gar nicht weit von Ihnen entfernt in der Altstadt: Am Sand 6, das ist an der Insel Schütt. Aber Sie werden ihn am Unschlittplatz treffen. Dort, wo Hauser seinerzeit das erste Mal gesehen wurde.« Der Reporter lehnte sich an die Hecktür seines protzigen Autos. »Herr Henlein ist angeblich im Besitz eines bisher nicht registrierten und daher auch nicht untersuchten Kleidungsstücks von Kaspar Hauser.«

»Wieder so ein Spinner«, entfuhr es Paul.

Blohfeld nickte wissend. »Ja, stimmt, wieder ein Spinner – allerdings einer, mit dem wir unsere Auflagenzahl erhöhen können! Auch für Sie bedeutet das klingende Münze, mein Lieber. Also? Sind Sie dabei?«

Paul musste nicht lange über seine finanzielle Lage nachdenken, bevor er nach einem letzten Aufbegehren seines gesunden Menschenverstandes nachgab und einschlug. »Ich übernehme den Job. Werden Sie dabei sein, wenn ich Henlein fotografiere?«

»Nein«, Blohfeld schüttelte entschieden den Kopf. »Ich habe bereits ausführlich mit ihm telefoniert. Außerdem bin ich leider grad ziemlich eingespannt: In der Montagsausgabe hieven wir die Einbrecherbande, die in Nürnberg ihr Unwesen treibt, auf die Seite eins. Diese Pyromanen haben letzte Nacht schon wieder zugeschlagen.«

Paul hob kaum merklich die Brauen. Blohfeld schickte ihn also allein ins Rennen, weil er sich selbst um die wirklich wichtigen und aktuellen Polizeistorys kümmern wollte. Paul hatte über die Diebesbande bereits wiederholt in der Zeitung gelesen: Eine Gruppe skrupelloser Einbrecher suchte eine Nürnberger Villa nach der anderen heim und setzte sie anschließend mit Litern von Benzin in Brand. Wahrscheinlich, um Spuren zu verwischen.

Aus Pauls Sicht hatte es wenig Sinn, weiter mit Blohfeld über dessen Prioritätensetzung zu diskutieren. Er war nur freier Fotograf und hatte nichts zu sagen. »Wann kann ich also Herrn Henlein treffen?«, fragte er tonlos.

»In einer halben Stunde«, antwortete Blohfeld ernst und ohne jedes Zögern. »Wenn Sie sich beeilen, sind Sie sogar pünktlich dort.«

 

2

Unschlittplatz, Ecke Obere Kreuzgasse – außer Atem kam Paul an seinem Ziel an. Trotz der Samstagseinkäufer, die die Straßen verstopften, hatte er es beinahe pünktlich geschafft, wofür er sich selbst lobte, denn in der knappen Zeit hatte er es sogar noch fertig gebracht, einen Zwischenstopp bei sich zuhause am Weinmarkt einzulegen und sich trockene Hosen und ein anderes Paar Schuhe überzustreifen.

Paul ließ seine Blicke über die herausgeputzten Fachwerkhäuser gleiten. Für Momente dachte er an die Diskussionen, die in den frühen siebziger Jahren aufgekommen waren: Damals war ernsthaft erwogen worden, einige der historischen Gebäude zugunsten einer besseren Verkehrsführung abzureißen. Als er zu den schön restaurierten Giebeln emporblickte, war Paul froh, dass es dazu nicht gekommen war.

Am Dudelsackpfeiferbrunnen blieb Paul stehen und schaute sich neugierig nach seiner Verabredung um. Ein Pärchen ging an ihm vorbei, lachend und innig Händchen haltend, dann eine Familie, voll bepackt mit Einkaufstüten. Eine Rentnerin mit feistem Dackel taxierte ihn argwöhnisch.

Schließlich näherte sich ihm ein Mann von sechzig, vielleicht fünfundsechzig Jahren. Eine Erscheinung, die man leicht übersehen konnte: nicht besonders groß, schlicht gekleidet, mit schütterem Haar und gutmütigen Augen. Unter dem Arm trug er eine Aktentasche: hellbraun, wahrscheinlich schweinsledern, war sie nach Pauls Empfinden etwas altmodisch. Auf ihrer Vorderseite prangte ein Aufkleber mit dem stadtbekannten Logo der Nürnberger Verkehrsbetriebe VAG.

Der Mann deutete schon im Näherkommen auf Pauls Fotoausrüstung und ging dann mit offenem Lächeln auf ihn zu. Erst als er ihm direkt gegenüberstand, erkannte Paul die vielen Narben in dem rundlichen Gesicht seines Gegenübers.

»Henlein«, sagte der Mann mit freundlicher, sanfter Stimme. »Sie sind der Zeitungsfotograf?«

Paul schüttelte ihm die Hand. »Ja, Flemming ist mein Name, Paul Flemming.« Paul wollte sich nicht mit langen Vorreden aufhalten. »Fangen wir mit den Aufnahmen gleich an? Am besten fotografiere ich Sie an der Stelle, an der man Hauser seinerzeit fand.«

»Nun«, lächelte Henlein noch immer freundlich, »so einfach wird sich das nicht gestalten lassen. Die exakte Stelle ist historisch nämlich nicht belegt.«

»So?«, fragte Paul wenig begeistert. Er hatte gehofft, dass sein Gesprächspartner den Fototermin nicht unnötig komplizieren würde. »Aber wenn ich mich recht erinnere, heißt es, dass Hauser auf diesem Platz wie aus dem Nichts aufgetaucht ist. Passanten haben ihn entdeckt, wie er ziellos umherirrte«, kramte Paul sein lückenhaftes Wissen zusammen.

»Das trifft es nicht ganz«, verbesserte ihn Henlein erneut. »Auf sein Auftauchen hatte es vorher durchaus schon Hinweise gegeben.«

Paul setzte seine schwere Fototasche ab und lehnte sich an den Brunnen. »Und was für Hinweise waren das?«

»1816 ist am Oberlauf des Rheins eine Flaschenpost angeschwemmt worden. Sie enthielt eine mysteriöse Nachricht mit einer scheinbar wirren Buchstabenanordnung. Damals konnte man in dieser Botschaft keinen tieferen Sinn erkennen. Manche hielten sie sogar für einen Scherz. Später sahen die Forscher in der Buchstabenfolge ein Anagramm.«

»Ein was?«

»Eine Art Buchstabendreher: Aus den vierzehn Buchstaben ergaben sich zwar etliche Kombinationsmöglichkeiten, aber nur sehr wenige sinnvolle. Eine lautete ›Sein Sohn Kaspar‹.«

Paul zuckte ein wenig ratlos die Schultern. »Aber wir leben hier an der Pegnitz und nicht am Rhein.«

Henlein behielt seine freundliche Miene bei. »1828, also exakt zwölf Jahre nach dem Fund der Flaschenpost, tauchte hier am Unschlittplatz ein Junge mit dem gleichen Vornamen auf«, erzählte Henlein weiter.

»Hauser«, folgerte Paul.

Henlein nickte. »Ja, laut zeitgenössischer Augenzeugenberichte war er völlig kraftlos und erschöpft. Er konnte bloß noch stammeln. In den Händen hielt er eine ominöse Nachricht, ähnlich verwirrend wie die Flaschenpost zuvor.«

Paul sah sich auf dem Platz um. Bei dem sommerlichen Getümmel konnte er sich die damalige Szenerie nur schwer vor Augen führen.

»Die Leute brachten Hauser auf die Polizeiwache, wo versucht werden sollte, die Herkunft des Unbekannten zu klären«, schilderte Henlein. »Der Sonderling schien zwar allen Fragen genau zuzuhören, aber ihren Sinn verstand er anscheinend nicht. Jedenfalls blieb er stumm. Erst als man ihm die Hand führen wollte, damit er ein Kreuz unter das Polizeiprotokoll setzen sollte, ergriff er plötzlich doch noch die Initiative.«

Paul meinte, in Henleins Augen einen Glanz zu erkennen, als er weitersprach. Das Thema begeisterte den Mann, daran bestand für Paul kein Zweifel:

»Papier und Feder waren dem jungen Hauser nicht unbekannt – ziemlich ungewöhnlich für einen verwahrlosten Waisenknaben, oder?«, fragte Henlein. »Mit festem Druck des Stiftes und deutlich lesbar schrieb er einen Namen: Kaspar Hauser.«

Damit beendete Henlein seinen Exkurs in die Vergangenheit, was Paul nun doch bedauerte. Denn Henlein war – vielleicht wegen seiner angenehm unaufdringlichen Stimme – ein Erzähltalent. Trotz seiner anfänglichen Ungeduld hätte Paul ihm gern länger zugehört.

»Beginnen wir dann mit den Aufnahmen am Brunnen?«, schlug Paul vor.

Es schien Henlein peinlich zu sein, Paul abermals verbessern zu müssen: »Das wäre geschichtlich aber überhaupt nicht korrekt.«

»Wieso? War Hauser wasserscheu?«, versuchte Paul einen Witz.

Henlein schüttelte nachsichtig den Kopf: »Das weiß ich nicht, aber der Dudelsackpfeiferbrunnen – beziehungsweise seine Kopie – steht erst seit 1946 an dieser Stelle.«

Paul kam sich angesichts seines wenig vorbereiteten Auftretens verloren vor. Da er sich Henlein gegenüber, anscheinend ein Experte auf dem Gebiet der Stadtgeschichte, wohl kaum so bald in ein besseres Licht rücken konnte, spielte er lieber gleich mit offenen Karten: »Entschuldigen Sie, Herr Henlein. Ich bin sehr spontan für diesen Auftrag engagiert worden. Wie wäre es, wenn Sie einfach selbst einen Vorschlag für das Motiv machen und ich mich ums Fotografieren kümmere.«

Henlein fegte Pauls Bedenken mit einer Bewegung aus dem Handgelenk beiseite: »Sie brauchen sich nicht bei mir zu entschuldigen. Ich bin ja froh, wenn sich jemand für das, was ich zu sagen habe, interessiert. Falls Sie mehr über Hauser erfahren möchten, fragen Sie mich. Nur zu! Und ansonsten fotografieren Sie mich einfach hier, mitten auf dem Platz! Damit legen wir uns nicht fest und können somit auch nichts falsch machen.«

Also fing Paul an. Obwohl Henlein, wie er schon vermutet hatte, als Person nicht viel hergab, gelang es Paul, durch den wechselnden Einsatz eines Weitwinkel- und eines für Porträtaufnahmen besonders geeigneten, lichtstarken Fünfzig-Millimeter-Objektivs, sein Motiv wirkungsvoll in Szene zu setzen. Die historische Kulisse trug ihr Übriges dazu bei, dass Henlein auf Pauls hochauflösenden Digitalaufnahmen schließlich als interessante Persönlichkeit erschien, die dem Betrachter viel zu sagen hatte.

Nach einer guten halben Stunde intensiver Fotoarbeit verstaute Paul seine Ausrüstung wieder in seiner Tasche.

Henlein bedankte sich freundlich und reichte ihm seine Visitenkarte.

»Danke«, sagte Paul und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Septembersonne hatte es in sich. »Allerdings müssen wir noch einen zweiten Termin ausmachen. Mein Auftraggeber sagte etwas davon, dass Sie im Besitz eines Kleidungsstücks von Hauser sind? Das ist der Aufhänger der ganzen Story, den wir deshalb unbedingt im Bild haben müssen.« Paul las Henleins Karte mit seiner auch von Blohfeld schon erwähnten Adresse und schlug vor: »Soll ich morgen Nachmittag bei Ihnen vorbeikommen, damit wir das erledigen können? Von meiner Wohnung aus habe ich es sowieso nicht weit bis zu Ihnen.«

Henleins Dauerlächeln verschwand plötzlich aus seinem runden Gesicht. »Nein, nicht bei mir zuhause«, er zögerte, bevor er weitersprach, »meine Frau hat nicht viel für mein Hobby übrig. Sie verstehen schon: Immer nur Hauser, Hauser, Hauser – und die Ehefrau kommt dabei zu kurz.« Er lachte gekünstelt und etwas angespannt.

»Wie wäre es dann mit Hausers Nürnberger Unterkunft? Er hat doch einige Jahre in der Stadt gelebt, habe ich recht?«

»Das stimmt: bei Professor Daumer. In einem Haus auf der Hinteren Insel Schütt. Ein altes Gebäude, verwinkelt, mit vielen kleinen Räumen und Kammern. In seinem rückwärtigen Teil besaß Daumer eine Wohnung im ersten Obergeschoss, die er Hauser zur Verfügung gestellt hatte. Aber«, Henlein sah ihn bedauernd an, »Daumers Haus wurde wie die gesamte übrige Bebauung der Hinteren Insel Schütt bei dem großen Fliegerangriff am 2. Januar 1945 völlig zerstört. Die Fläche ist heute bloß noch eine Grünanlage mit der darunterliegenden Karstadt-Tiefgarage.« Mit neu gewonnenem Optimismus fügte er rasch hinzu: »Was halten Sie davon, wenn wir uns in Ansbach treffen? Im Hofgarten, am Hauser-Denkmal, dem Tatort des Hauser-Attentats.«

Paul stimmte zu, dort gäbe es bestimmt gute Motive, und sie vereinbarten einen Termin am Sonntagmittag.

Henlein bedankte sich erneut für Pauls Arbeit und wollte sich schon verabschieden, als der Fotograf sich der Neugierde halber erkundigte: »Wenn ich fragen darf: Weshalb interessieren Sie sich eigentlich so stark für Kaspar Hauser?«

Henlein stutzte für einem Moment. Er fuhr sich durch das schüttere Haar, als hätte ihn Paul mit seiner Frage aus dem Konzept gebracht. Schließlich antwortete er mit seiner weichen Stimme: »Ich bin selbst Waise. – Hauser ist ein Schicksalsgenosse. Er ist für mich wie eine Art Bruder.«

Paul war erstaunt. Mit einer solchen Antwort hatte er nun ganz und gar nicht gerechnet. »Ihre Eltern sind also früh verstorben?«, erkundigte er sich taktvoll.

Abermals war Henleins Antwort für Paul überraschend: »Das weiß ich leider nicht. Ich habe sie nie kennengelernt.«

Paul sah Henlein fragend an.

Dieser musterte ihn, als wollte er prüfen, ob Paul es überhaupt wert war, ihm seine Lebensgeschichte zu erzählen. Dann begann er langsam zu erzählen: »Sagt Ihnen der Begriff ›Displaced Person‹ etwas? Die Alliierten haben diese Bezeichnung 1944 eingeführt. Gemeint waren damit all die armen Teufel, die sich kriegsbedingt fern der Heimat aufhielten und nicht ohne Hilfe zurückkehren konnten. Zwangsarbeiter, versprengte Soldaten und viele, viele Kinder.«

Paul begann, seine Frage zu bereuen. Er hatte Henlein nicht in Verlegenheit bringen wollen.

»Ich selbst war so eine ›Displaced Person‹«, redete Henlein weiter. »Kurz nach dem Kriegsende bin ich identitätslos in Nürnberg aufgegriffen worden. Damals war ich sechs oder sieben Jahre alt, nur mit Fetzen bekleidet und hatte Brand- und Schnittverletzungen an Gesicht und Körper.« Im Gegensatz zu seinen Ausführungen über Kaspar Hauser leierte Henlein seine eigene Lebensgeschichte tonlos herunter wie ein auswendig gelerntes, aber dennoch ungeliebtes Gedicht. »Ich war völlig verwirrt und hatte keinerlei Erinnerung an irgendetwas davor. Ich bin medizinisch versorgt worden, soweit das die Zustände der damaligen Zeit zuließen. Auch eine Unterkunft bekam ich zugewiesen: Unmittelbar nach Beendigung der Kampfhandlungen hatte eine Hilfsorganisation die Einrichtung eines Lagers für uns organisiert, das Valka-Lager in Langwasser. Vielleicht haben Sie schon einmal davon gehört.«

»Das muss eine schwere Zeit gewesen sein«, sagte Paul beklommen.

»Nach zwölf Monaten Barackenleben in Langwasser bin ich in ein Kinderheim gekommen – und habe dort gelernt, dass mein Schicksal nichts Außergewöhnliches war«, sagte Henlein sehr ernst. »Im Zweiten Weltkrieg wurden hunderttausende Kinder zu Waisen. Über ein Drittel dieser Kinder war auf der Flucht oder vertrieben worden. Neun von zehn Kindern hatten Bombardierungen oder Kämpfe hautnah miterlebt ...«

»Es muss wirklich sehr schlimm für Sie gewesen sein«, sagte Paul mitfühlend.

»Ja«, sagte Henlein und straffte seine Schultern. »Aber es war die Normalität. In der Nachkriegszeit fiel ein traumatisiertes Kind mit seiner persönlichen Geschichte nicht besonders auf und dachte erst recht nicht, etwas Besonderes durchgemacht zu haben. – Man musste mit dem Erlebten abschließen, um voranzukommen. Man musste sich möglichst schnell neu orientieren. Nur wer sich selber hart gegen das Leben machte, hatte eine reale Überlebenschance.«

»Und trotzdem hat Sie Ihre Vergangenheit nicht losgelassen«, sagte Paul leise.

Henlein blickte Paul traurig an. »Das stimmt. Aber mein Gedächtnis an die Zeit vor meinem Auftauchen ist leider niemals zurückgekehrt. Ich habe keinerlei Erinnerung an meine Eltern, Großeltern oder irgendwelche eventuellen Geschwister.« Er lächelte traurig. »In meinen Träumen taucht ab und zu ein Teddybär auf, aber das ist auch schon alles, was sich womöglich als Hinweis auf meine Kindheit deuten lässt.«

»Ein Teddy?«, fragte Paul.

»Ja.« Henlein wirkte bedrückt. »Ein brauner Teddybär, so wie ihn eben viele Kinder besitzen. Nur dass er in meinen Träumen keinen Kopf hat.«

»Ein kopfloser Bär – das ist ziemlich verstörend«, sagte Paul betroffen.

»Ich habe mich daran gewöhnt. Er gehört zu meinen Nächten, und inzwischen macht mir dieser Traum auch keine Angst mehr.« Henlein griff unter seinen Kragen und zog eine Kette unter seinem Hemd hervor. »Ansonsten gibt es nur noch diesen Kettenanhänger. Den trug ich um den Hals, als man mich fand.«

Paul beugte sich vor und betrachtete das unscheinbare Medaillon. Es war offensichtlich aus Silber und stark angelaufen. Das eingravierte Motiv war eine vereinfacht dargestellte Blume. »Aber das hat Sie in Ihrer Ahnenforschung nicht wirklich weitergebracht, oder?«, fragte er.

Henlein schüttelte langsam den Kopf. »Natürlich nicht. Es ist die Kette eines Kindes. Ein billiger, belangloser Anhänger. Nicht einmal ein Monogramm ist vorhanden, aber wie Sie vielleicht verstehen, hänge ich daran. Das Medaillon ist meine einzige Verbindung zur Vergangenheit.« Henlein bemühte sich um einen heiteren Gesichtsausdruck, als er sagte: »Nun habe ich Sie aber lange genug aufgehalten.« Er reichte Paul noch einmal die Hand. »Wir sehen uns also morgen in Ansbach. Es hat mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Mich auch«, sagte Paul, während sie sich die Hände schüttelten. »Was mich jetzt aber doch noch interessiert, ist die Herkunft Ihres Namens. Wenn Sie sich nicht an Ihr Elternhaus erinnern können, dann wohl auch kaum an Ihren Taufnamen.«

»Nein, das kann ich tatsächlich nicht. Mein Vorname Franz wurde mir von den anderen Heimkindern gegeben. Irgendwie hat er anscheinend zu mir gepasst. Den Nachnamen durfte ich mir später als Volljähriger selber aussuchen. Ich habe Henlein gewählt, weil er ein guter alter Nürnberger Name ist.«

Paul nickte freundlich. »Danke für Ihre Offenheit. Eine letzte Bitte noch: Darf ich Ihren Kettenanhänger fotografieren?«

»Ich habe nichts dagegen einzuwenden«, sagte Henlein nach kurzem Nachdenken.

 

Ein außergewöhnlicher Mensch, dachte Paul, als er zurück zu seinem Renault ging. Henlein war ihm gegenüber ausgesprochen freundlich gewesen und hatte ein bescheidenes und zurückhaltendes Auftreten an den Tag gelegt. Zweifellos wusste er jede Menge über Hauser und dessen Epoche. Vor allem aber Henleins eigene Vergangenheit übte auf Paul eine gewisse Faszination aus. Eine Amnesie, welche die komplette Kindheit ausblendete, das war schon ein schwerer Schicksalsschlag, und Paul mochte kaum glauben, dass Henlein diesen Identitätsverlust tatsächlich folgenlos verkraftet hatte.

Er hatte seinen Renault, der in der Schlotfegergasse abgestellt war, beinahe erreicht, als sein Handy klingelte.

»Blohfeld hier. – Na, wie ist es gelaufen?«

»Danke, gut«, antwortete Paul knapp und schloss den Wagen auf.

»Da sehen Sie mal, dass man sich auf mich verlassen kann«, sagte der Reporter selbstgefällig. »Ein flott erledigter, harmloser Auftrag, der Sie um ein anständiges Honorar reicher macht. – Ich hoffe, Sie haben das Hemd von allen Seiten abgelichtet.«

»Das Hemd ...«, Paul wuchtete seine Fototasche auf den Rücksitz, »nein, soweit sind wir heute nicht gekommen. Henlein bringt es erst morgen mit. Wir treffen uns in Ansbach.«

Blohfeld prustete laut in den Hörer: »Aber das Hemd ist doch der Witz an der ganzen Sache! Henlein ohne die neue Hauser-Hinterlassenschaft zu fotografieren, das bringt gar nichts.«

»Aber ich dachte ...«

»Hören Sie, Flemming: Dieses Hemd, mit dem Henlein hausieren geht und das er womöglich schon sehr bald unserer Konkurrenz präsentieren wird, stammt angeblich aus dem Nachlass eines gewissen Anselm Ritter von Feuerbach. Das wird Ihnen als Kunst- und Geschichtsbanause natürlich nichts sagen«, schimpfte der Reporter. »Aber vielleicht verstehen Sie mehr, wenn ich Ihnen verrate, dass dieses Hemd mit Hausers Blut beschmiert ist. Blut, das von einer Verletzung herrührt, die Hauser vier Jahre vor seinem Tod in Nürnberg zugefügt worden war.«

Paul konnte die Brisanz, die Blohfeld der Sache plötzlich zumaß, nicht ganz nachvollziehen. Er ließ sich in seinen Fahrersitz fallen und blickte zum Fürther Tor und der trutzigen Stadtmauer hinüber. »Na, und? Es gibt doch bereits die blutbefleckten Beinkleider, die Hauser bei der tödlichen Attacke im Ansbacher Hofgarten getragen hat. Der neue Fund dürfte kaum mehr Überraschungen bergen.«

»Womöglich doch«, beharrte Blohfeld. »Die Genanalysen dieser besagten Unterhose haben vor einigen Jahren ergeben, dass höchstwahrscheinlich keine verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Hauser und dem Fürstenhaus von Baden bestanden haben.«

»Ja, darüber haben wir ja heute Morgen schon gesprochen«, sagte Paul, noch immer im Dunkeln tappend. »Die Mär vom verstoßenen Kronprinzen ist seitdem widerlegt, und ich wüsste nicht, warum ein neues Kleidungsstück zu einem anderen Ergebnis kommen sollte.«

Der Reporter machte eine vielsagende Pause. »Was wäre, wenn die Unterhose Hauser nur untergeschoben worden war?«, stellte Blohfeld in den Raum.

Paul war verblüfft. »Sie meinen, wenn das untersuchte Blut gar nicht von Hauser stammte ...«

»Genau. In diesem Fall könnte Henleins neues Fundstück sehr wohl überraschende Tatsachen bergen.«

»Das klingt ja richtig spannend«, meinte Paul jetzt begeistert. »Von wegen fader und harmloser Auftrag«, schalt er Blohfeld im Spaß.

 

3

Nachdenklich betrat Paul sein Wohnloft in der obersten Etage eines Wohn- und Geschäftshauses am Rande des Weinmarktes. Seine Mokkabraune, ein lebensgroßer Abzug eines farbigen Aktmodels, begrüßte ihn wie stets im Flur mit einem Lächeln, das Paul je nach Stimmung als aufmunternd, verführerisch oder einfach nur belanglos empfand.

Heute ignorierte er seine leblose Mitbewohnerin gänzlich und steuerte schnurstracks auf sein Atelier zu. Durch das ovale Oberlicht strömten die letzten Reste des milden Altweibersommerlichts. Er setzte sich an seinen gläsernen Schreibtisch, fuhr den Computer hoch und begann, die reiche Fotoausbeute des heutigen Tages hochzuladen.

Doch Paul war nur halbherzig bei der Sache, denn auf dem Heimweg von seinem Henlein-Termin hatte er noch einen Anruf erhalten, der ihn nicht losließ.

Also stand er wieder auf und ging unsicher durch seine Wohnung. Mit Argusaugen sah er sich in seinem Atelier um. Er wusste nicht genau, wonach er Ausschau hielt. Es kam ihm nicht darauf an, dass sein Heim besonders aufgeräumt oder picobello geputzt war.

Vielmehr waren es die Dinge, die ihn unter Umständen in Verlegenheit bringen konnten, wenn Katinka gleich bei ihm klingeln und er sie hereinbitten würde.

Natürlich freute er sich darüber, dass sie sich vorhin am Handy spontan selbst bei ihm eingeladen hatte. Und es war ja auch durchaus nicht so, dass es sich um ihren ersten Besuch bei ihm handelte, und trotzdem ...

Paul schob einen Packen Fotozeitschriften mit nackten Models auf den Covern mit dem Fuß unter den Sofatisch und setzte dann seine unbestimmte Suche fort.

Seit sich aus seiner unverbindlichen Jugendfreundschaft mit der jetzigen Staatsanwältin Katinka Blohm so etwas wie eine echte Beziehung entwickelt hatte, fühlte er sich ihr gegenüber verpflichtet, wobei das überhaupt nicht negativ gemeint war. Im Gegenteil. Es war vielmehr so etwas wie ein Gefühl der Fürsorglichkeit, das er plötzlich ihr gegenüber hegte. Und dazu gehörte es nun mal, Bagatellen wie kompromittierende Zeitschriften, auf Zettel gekritzelte Adressen von Fotomodellen oder das Bild einer Verflossenen verschwinden zu lassen.

Ihm war klar, dass sein Verhalten unbegründet war. Katinka hätte ja schon bei früheren Besuchen all diese Dinge entdecken und sich daran stören können. Aber sie hatte nie etwas gesagt, höchstens mal eine flapsige Bemerkung fallen lassen. Warum also sollte er sein Leben so plötzlich ändern?

Es läutete an der Wohnungstür. Paul fühlte sich, als wäre sein Herz für den Bruchteil einer Sekunde stehen geblieben, um danach in schnellerem Takt weiterzuschlagen.

Während er sich noch über sich selbst wunderte, eilte er durch den Flur und öffnete.

»Hallo, Paul«, begrüßte ihn Katinka fröhlich. »Schön, dass du Zeit für mich hast.«

Das lange blonde Haar fiel über ihre Schultern und bildete einen hellen Kontrast zum nüchternen Dunkelgrau ihres Jacketts. Ihre blauen Augen lächelten genauso wie ihr Mund: offen und ohne jede Spur eines Vorbehalts.

»Hier, statt Blumen«, sagte sie und drückte Paul eine gerollte Zeitung in die Hand. »Die neuesten Ergüsse deines Freundes Blohfeld. Diesmal geht es um keinen Geringeren als Kaspar Hauser.«

Ihr voran ging Paul ins Atelier. Katinka setzte sich neben ihn auf das Sofa. Paul roch ihr Parfüm: Es war leicht, beinahe sommerlich, gleichzeitig aber enthielt es eine süßlich romantische Note, die auf den ersten Blick nicht so recht zu Katinkas nüchternem Auftreten passen wollte. Doch Paul kannte sie mittlerweile gut genug um zu wissen, dass gerade Feinheiten wie diese sehr viel über Katinkas vielfältiges Wesen aussagten.

»Und, was hat Blohfeld geschrieben?«, fragte er, während er die Zeitung aufschlug. Er fand den Artikel auf Anhieb und las laut vor:

»Der Fall Hauser: Neue Spur aus der Vergangenheit.« Er warf Katinka einen forschenden Blick zu und überlegte, ob er ihr von seinem Treffen mit Henlein berichten sollte, entschied sich dann aber dagegen: Sie würde das sicher nicht interessieren. Stattdessen las er weiter:

»Ein Mordfall, der sich bereits im Jahr 1833 ereignete, lässt die Nürnberger bis heute nicht mehr los: Über kaum ein anderes Gewaltverbrechen wurde so viel geforscht, spekuliert und geschrieben wie über den Fall Kaspar Hauser. Trotz intensiver Aufklärungsarbeit blieben die Hintermänner der Bluttat von Ansbach unbekannt, und auch das Rätsel um Hausers Herkunft ist nach wie vor offen. Das könnte sich jedoch bald ändern: Unserer Zeitung liegen aus zuverlässiger Quelle Hinweise auf eine neue Spur im Fall Hauser vor.«

Paul blickte Katinka tief in die Augen, dann las er weiter.

»Nachdem Hauser verwandtschaftliche Beziehungen zu adligen Kreisen und sogar ein badischer Thronanspruch nachgesagt wurden – angeblich war er der verstoßene Erbprinz –, setzte eine Reihe von Attentatsversuchen gegen ihn ein, denen er schließlich nach einem Überfall im Ansbacher Hofgarten tatsächlich zum Opfer fiel.«

Katinkas Knie berührte Pauls Oberschenkel. Er spürte eine angenehme Wärme in sich aufsteigen.

»Während sich neuere kriminalwissenschaftliche Untersuchungen vorwiegend auf Blutreste von Hausers Beinkleidern konzentrierten, die er an seinem Todestag trug, richtet der Informant unserer Zeitung hingegen den Fokus auf einen der früheren Attentatsversuche, die bis heute nur wenig Beachtung fanden. Der in Fachkreisen ausgewiesene Hauser-Experte misst der neuen Spur überaus große Bedeutung bei. Vielleicht wird das Hauser-Geheimnis in absehbarer Zeit endlich gelüftet werden ...«

»Meint er das jetzt wirklich ernst?«, unterbrach Katinka, ohne ihren Spott zu unterdrücken.

»Wie ich Blohfeld kenne: ja!« Paul legte die Zeitung beiseite.

Katinka lachte. »An Hauser haben sich schon ganz andere die Zähne ausgebissen. Da wird auch ein Herr Blohfeld – trotz seines legendären Selbstbewusstseins – keinen größeren Erfolg haben.«

»Warten wir’s ab«, sagte Paul und erhob sich. »Du nimmst doch einen Cappuccino?«

Katinka nickte, worauf Paul hinter seiner Küchenzeile verschwand. Er hatte sich gerade dem Kaffeeautomaten zugewandt, als ihn ein Geräusch aufhorchen ließ. Er drehte sich um und sah noch, wie Katinka eine Pappschachtel aus seinem Bücherregal nahm.

Verflixt, schoss es ihm durch den Kopf. Hatte er also doch etwas übersehen! Schnell ging er zurück.

Katinka hatte es sich mitsamt der Schachtel auf dem Parkettboden bequem gemacht. Doch ehe sie den Deckel abnehmen konnte, legte Paul seine Hand auf die ihre.

»Bitte nicht«, sagte er mit mühsam unterdrücktem Ärger.

Katinka sah zu ihm auf. »Warum denn?« Ihr Ton war nicht misstrauisch, eher neugierig. »Versteckst du darin etwa deine besonders verruchten Fotos?«

»Nein«, sagte Paul und scherzte angespannt: »Die sind in einer anderen Box.«

Katinka legte ihre andere Hand behutsam auf seine und schob sie beiseite. »Lass mich wenigstens ganz kurz hineinschauen. Ich verrate es auch keinem weiter, versprochen«, sagte sie in gespieltem Verschwörerton und grinste.

Paul kapitulierte. Es hatte wenig Zweck zu protestieren. Angesichts der Tatsache, dass er in der Kiste bloß ...

»Playmobil-Figuren?« Katinka nahm mit erstauntem Blick ein Plastikmännchen aus der Kiste und stellte es auf den Holzboden. »Du spielst immer noch damit?«

Unangenehm berührt merkte Paul, wie er rot wurde. »Ich habe dir doch schon mal erzählt, wozu ich sie hin und wieder verwende«, sagte Paul.

Katinka kicherte und nahm eine weitere Figur aus der Box: eine Prinzessin mit weit ausladendem Kleid und goldener Krone. »Du brauchst dich deswegen wirklich nicht zu schämen. In jedem Mann steckt naturgemäß ein Kind.«

»Hahaha«, entgegnete Paul ein wenig beleidigt. »Wenn ich mal nicht weiterkomme, stelle ich mit den Figuren Kriminalfälle nach.«

»Paul, du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Ich finde es süß, wenn ein erwachsener Mann seinen angeborenen Spieltrieb nicht allein auf Sportwagen und teure Uhren reduziert. Wer weiß«, sagte sie verschmitzt, »vielleicht lebst du damit ja sogar einen verborgenen Kinderwunsch aus.«

Paul verdrehte die Augen. »Jetzt hör aber auf zu lästern. Wenn ich bei dir zuhause lange genug suchen würde, fände ich bestimmt auch eine deiner Lieblingspuppen aus Kindergartenzeiten.«

»Stimmt«, sagte Katinka ohne zu zögern. »Dafür bräuchtest du aber nicht lange zu suchen: Sie hat einen Ehrenplatz im Gästezimmer.«